Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Prolog
E s war offensichtlich, dass der Beamte ihm diese Version der Vorgänge nicht abnahm.
Natürlich war der Mann darauf geschult, misstrauisch zu sein. Er hatte es von Anfang an bemerkt. Der Beamte glaubte ihm nicht. Markus Battin hatte sich sein Gehirn zermartert, was er ihnen erzählen würde. Es war ihm schwer gefallen, eine überzeugende Geschichte zu erfinden. Es log sich besser, wenn man die Wahrheit kannte. Die Wahrheit! Ein haarfeiner Riss in seinem Lebensgebäude. Er hatte ihn tagelang betrachtet, diesen Riss, und sich einzureden versucht, dass er gar nicht da sei. Ich bin das Opfer eines Verrückten, sagte er sich immer wieder vor. Eines durchgedrehten Spinners.
Er schaute auf den Stapel Blätter vor sich auf dem Tisch, das abgetippte Protokoll seiner Vernehmung. Warum wurde er hier überhaupt vernommen? Schließlich war er das Opfer. Zwei Stunden hatte dieses »Informationsgespräch« gedauert. Ein regelrechtes Verhör war es gewesen. Und jetzt sollte er diese ganze Abschrift noch einmal durchlesen, jede Seite paraphieren, die ganze Geschichte noch einmal durchleben, nur damit die ihre Akten zumachen konnten.
»Ich kann Sie natürlich nicht zwingen, zu lesen, was Sie unterschreiben«, hatte der Beamte zu ihm gesagt. »Aber falls die Sache irgendein Nachspiel hat, könnte es sein, dass dieses Protokoll als Beweismittel herangezogen wird. Wenn dann etwas falsch wiedergegeben ist, könnten Sie Probleme bekommen. Es dauert ja nicht lange.«
Ein Nachspiel? Was für ein Nachspiel?
Dieser Irre hatte das Land verlassen. Ein Nachspiel hatte das Ganze lediglich für seine Tochter. Battins Magen verkrampfte sich beim Gedanken an Giulietta. Wie hatte der Kerl ihr das nur antun können? Natürlich war die Polizei auch sehr daran interessiert gewesen, Giulietta zu verhören. Um ihr das zu ersparen, hatte er schließlich dieser Befragung zugestimmt. Giulietta war gar nicht vernehmungsfähig. Sie stand unter Schock. Das verübelte er diesem Wahnsinnigen am meisten. Was er Giulietta angetan hatte. Allerdings wurde dadurch alles nur noch unbegreiflicher.
Dieser Damián Alsina hatte seine Tochter geliebt. Sie waren gerade einmal zwei Monate zusammen gewesen, aber die Veränderung in Giulietta war unübersehbar. Nein, nicht er –
sie
hatte
ihn
geliebt. Die Rückschläge dieses Sommers hatten ihr schwer zugesetzt. Das war vielleicht ihr einziger Fehler. Sie konnte mit Misserfolgen nicht gut umgehen. Das war schon in der Ballett-Schule so gewesen. Die ewige Kritik, die Schreierei, die bohrenden Selbstzweifel, auf welche es die Lehrer mit fast sadistischer Präzision abgesehen hatten. »Nur die Guten werden angeschrien«, hatte er ihr immer wieder gesagt. »Das Schlimmste ist, wenn sie dich ignorieren. Solange sie dich fertig machen wollen, glauben sie an dich.« Das hatte sie nie begriffen. Oder vielleicht hatte sie es begriffen. In jedem Fall besaß sie keine Abwehrreflexe gegen diese ganzen Gemeinheiten. Sie nahm das alles zu persönlich. Er hatte sich ernsthaft Sorgen um sie gemacht. Schließlich hatte es doch noch geklappt, zwar unbezahlt und als Hospitantin, aber dafür an einem der besten Häuser des Landes, der Berliner Staatsoper. Aber diese Veränderung an ihr hatte später eingesetzt, irgendwann im September oder Oktober. Sie war plötzlich wie ausgewechselt, war am Wochenende laufend unterwegs und kam überhaupt nicht mehr zu ihnen nach Zehlendorf. Ausnahmsweise hatte diesmal seine Frau zuerst erfahren, was für ein Licht seiner Tochter in der Düsternis ihrer Niedergeschlagenheit plötzlich erschienen war.
»Sie hat ihren Märchenprinzen gefunden«, hatte Anita ihm lapidar mitgeteilt.
»Davon weiß ich ja gar nichts«, hatte er geantwortet. »Dann muss es ein regelrechter Zauberkünstler sein, wenn er sie von heute auf morgen geheilt hat.«
»Für neunzehnjährige Mädchen bedarf es keiner Zauberkünstler«, hatte Anita erwidert, »ein charmanter Mann reicht da völlig aus.«
»Ein Mann?«
»Na ja, Männchen. Er ist dreiundzwanzig.«
»Und? Kennst du ihn schon?«
»Ich? Nein. Wie kommst du darauf?«
»Offensichtlich weißt du schon einiges über ihn.«
»Schau sie dir doch an, dann weißt du alles. Ich habe sie nur gefragt, wie alt er ist.«
Er war zugleich froh und beunruhigt gewesen. Es ging ihr endlich besser. Das war gut. Aber ein Mann? Warum hatte er das nicht bemerkt? Die Arbeit. Er hatte zu viel gearbeitet. Der neue Schichtplan. Das neue Sicherheitskonzept wegen des Regierungsumzugs. Er
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