Du sollst nicht hassen
Abschießen von Raketen nach Israel und die Selbstmordattentate, fordern Gegenangriffe der Israelis und diese wiederum Racheakte der Gazabewohner heraus, die zu erneuten Erwiderungen der Israelis führen. So setzt sich der Teufelskreis fort.
Mehr als die Hälfte der Menschen in Gaza sind jünger als achtzehn Jahre. Das bedeutet eine Menge Zorn entrechteter junger Leute. Lehrer berichten von Problemen in den Schulen, die Gewalt gegenüber Frauen eskaliert. Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen Empfindungen von Sinn- und Hoffnungslosigkeit bringen Menschen hervor, die zu allem bereit sind, weil sie sich wie Ausgestoßene fühlen, die nichts zu verlieren – ja schlimmer noch: die nichts zu bewahren haben.
Verzweifelt versuchen sie, die Aufmerksamkeit der Menschen jenseits der geschlossenen Grenzen zu erringen, jener, die darüber entscheiden, wer willkommen ist und wer nicht. Ihr Hilferuf lautet: »Seht her, das Maß des Leidens hier ist voll.« Aber können die Menschen aus Gaza die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft gewinnen? Selbst humanitäre Hilfsorganisationen sind von der Erlaubnis Israels abhängig, den Gazastreifen betreten oder verlassen zu dürfen.
Die Gewaltakte, die von den Palästinensern begangen wurden, sind Ausdruck der Frustration und des Zorns eines Volkes, das sich macht- und hoffnungslos fühlt. Die primitive und billige Kassam ist im Grunde die teuerste Rakete der Welt, wenn man ihre Konsequenzen auf beiden Seiten des Grabens bedenkt. Die unverhältnismäßige Gegenreaktion verursacht den Verlust unschuldigen Lebens, vernichtet Häuser und Höfe; nichts wird verschont und nichts ist heilig.
Ich habe mit dieser Spannung mein ganzes Leben lang in unterschiedlichem Ausmaß gelebt. Ich wurde 1955 im Flüchtlingscamp von Jabaliya in Gaza als der älteste von sechs Brüdern und drei Schwestern geboren. Schon als Kind wusste ich, dass Bildung ein Privileg war, etwas Heiliges und ein Schlüssel zu vielen Möglichkeiten. Ich erinnere mich, wie ich meine Bücher fest an mich drückte und meinen wertvollsten Besitz mit meinem Leben schützte, inmitten der Zerstörung, die um mich herum stattfand. Ich gab diese Schätze an meine jüngeren Brüder und an ein paar Freunde weiter. Bevor ich meine Bücher weiter verlieh, ließ ich sie wissen, dass sie auf sie achten müssten wie auf ihren wertvollsten Besitz. Ich habe all diese Bücher noch heute. Dank harter Arbeit, stetiger Bemühungen und meinem tiefen Glauben wurde ich Arzt. Ohne die ungeheuren, unermüdlichen Anstrengungen besonders meiner Eltern wie meiner ganzen Familie, die selbstlos alles opferte, wo sie doch selbst nichts hatte, wäre das jedoch nicht möglich gewesen. Als ich nach Kairo zum Medizinstudium ging, machten sie sich Sorgen, weil ich so weit von ihnen entfernt war – würde ich genug zu essen haben? Würde ich die gewohnten Lebensmittel bekommen? Meine Lieblingskekse, meine liebsten palästinensischen Gewürze, Oliven und Olivenöl? Meine Mutter schickte diese Dinge mit Leuten aus Gaza, die nach Ägypten zu Besuch kamen. Manchmal bekam ich Päckchen mit Kleidung, Seife, Äpfeln, Tee, Kaffee – allem, was ich brauchte, aber auch ein paar von meinen Lieblingssachen. Sie hofften, dass ich dafür sorgen könnte, dass wir alle ein besseres Leben haben würden. Und doch machten sie sich Sorgen um mich, ganz besonders meine Mutter.
Ich besuchte die medizinische Fakultät in Kairo und machte meinen Abschluss in Geburtshilfe und Gynäkologie an der University of London. Später, ab Juni 1997, machte ich meinen Facharzt in Geburtshilfe und Gynäkologie am Soroka Medical Center in Israel und war damit der erste palästinensische Arzt im Personal einer israelischen Klinik. Dann studierte ich vorgeburtliche Medizin und Genetik am V. Buzzi-Kinderkrankenhaus in Mailand sowie am Erasmus-Krankenhaus in Brüssel, wo ich zum Spezialisten für Unfruchtbarkeitsbehandlung wurde. Als mir klar wurde, dass ich mich für größere Veränderungen in Palästina einsetzen wollte, machte ich mich auf den Gebieten von Management und Strategieplanung kundig. Ich schrieb mich für einen Masterstudiengang für Öffentliche Gesundheit an der Harvard University ein. Mittlerweile bin ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Gertner-Institut des Sheba Hospi tals in Israel tätig. In meinem gesamten Leben als Erwachsener stand ich mit einem Bein in Palästina und mit dem anderen in Israel, ein ungewöhnlicher Umstand in dieser Region. Ob ich nun Babys
Weitere Kostenlose Bücher