Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
General Augusto Pinochet oder Somalias Präsident Siad Barre.
Assad ist zumindest untypisch. Würde ich ihn nicht kennen, würde ich auf einen Dozenten, Behördenchef oder Kinderarzt tippen. Aber nie auf den Präsidenten eines autoritären Staates.
Das Bild des eiskalten, gnadenlosen Diktators wird seiner Persönlichkeit kaum gerecht. Selbst wenn viele Vorwürfe im Kern stimmen sollten: Assad ist kein Dämon. 60 Eher ein Hamlet. Für mich ist er ein Mann mit zwei Seelen in der Brust.
Geprägt von einem Vater, der ein überragender, gnadenloser Stratege war, will er sich, seiner Familie, den Syrern und der Welt beweisen, dass er der Aufgabe gewachsen ist, Syrien durch diese Krise zu führen. Dass er seine Anhänger selbst unter massivstem Druck nicht im Stich lassen wird. Dass er ein Kämpfer ist. Obwohl man immer das Gegenteil behauptet hat.
Doch das ist offenbar nur ein Teil seiner Persönlichkeit. Eine andere, feinfühligere Stimme in ihm fragt ständig: »Was mache ich bloß hier? Das bin doch nicht ich. Ich will nicht Teil dieses Bürgerkrieges sein. Wie kann ich diesen Irrsinn beenden?« – »Sein oder nicht sein, Präsident sein oder nicht Präsident sein«, das ist seine tägliche Frage. Assad hat sich nie um das Präsidentenamt bemüht. Wäre sein Bruder Basil 1994 nicht tödlich verunglückt, wäre er wahrscheinlich heute noch Augenarzt. Vielleicht sogar in England. Wo die Familie seiner Frau noch immer lebt.
Unser Gespräch ist sehr direkt. Julia, die sich mit Scheherazad in eine ruhige Ecke des Raums zurückgezogen hat, meint später, so ungeschminkt habe wahrscheinlich noch nie jemand mit ihm gesprochen. Sie ist vor allem erstaunt, dass Assad das akzeptiert.
Fast leidenschaftlich – und an einigen Stellen auch laut – dränge ich Assad während unseres Gesprächs, sich an die Spitze der Demokratiebewegung zu stellen. Das sei noch immer möglich. Es gebe in der Geschichte manchmal für einen Augenblick ein window of opportunity . Lincoln habe seine historische Chance genutzt, als er die Sklaverei abschaffte. De Klerk, als er die Apartheid aufhob. Kohl, als er die Wiedervereinigung verwirklichte. König Juan Carlos, als er die spanische Demokratie rettete. Er, Assad, habe jetzt die Möglichkeit und die Pflicht, sein Land zur Demokratie zu führen. Jetzt entscheide sich, ob er nur einer von zahllosen bedeutungslosen arabischen Potentaten sei oder eine historische Gestalt.
Assad fragt, ob ich von ihm verlange, dass er seinem Land »wie ein Diktator« Demokratie verordne. Letztlich forderte ich ja einen »coup d’état«, einen Staatsstreich. »Klar«, antworte ich. »Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen.«
Assad meint, bei 17 Volksgruppen in Syrien sei die Einführung einer funktionierenden Demokratie etwas komplizierter, als ich es darstellte. Das Chaos im Irak habe gezeigt, wohin es führe, wenn man die kulturellen, religiösen und ethnischen Besonderheiten eines Landes nicht berücksichtige.
Er wisse sehr wohl, dass Demokratie letztlich für alle arabischen Staaten »zwingend« sei. Auch für Syrien. Dafür setze er sich auch ein. Energischer als die meisten seiner arabischen Nachbarn. Aber diese Demokratie müsse mit Sorgfalt, Schritt für Schritt, von Grund auf, »from scratch«, eingeführt werden.
Ich dränge darauf, die für 2014 vorgesehene Präsidentschaftswahl vorzuziehen. Er müsse die Entscheidung über die Zukunft Syriens jetzt in die Hände des Volkes legen. Das sei der demokratischste Weg, den sich täglich zuspitzenden Konflikt zu lösen. Natürlich müssten die Wahlen frei sein und unter internationaler Kontrolle stattfinden.
Assad ist das nicht seriös genug. Vorgezogene Präsidentschaftswahlen seien für ihn der leichteste Weg. Die würde er zurzeit schon mangels Konkurrenten gewinnen. Das Land brauche erst einmal ernst zu nehmende Parteien und ein echtes, frei gewähltes Parlament. Das sei wichtiger als das Vorziehen der Präsidentschaftswahlen.
Der Mittlere Osten habe aus vielen Gründen jahrzehntelang keine wirkliche Freiheit gehabt. Das sei leider unbestreitbar. Daher gebe es auch in Syrien keine starken Parteien. Die jetzigen Parteien brauchten »mindestens ein Jahr«, um konkurrenzfähig zu werden. Wahrscheinlich sogar deutlich mehr. Das sei auch normal. Es habe ja nie eine Opposition gegeben. »Wir brauchen leider Zeit.«
Ich erwidere, dass er diese Zeit nicht haben werde. Er müsse jetzt handeln. Julia berichtet mir später, dass
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