Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
Schwierigkeiten. Demokratie könne sehr ungerecht sein, meint er. Aber wenn Assad bei einer freien Wahl gewinne, müsse er das wohl hinnehmen. Doch dann würde er sich völlig zurückziehen. Das sei ja eine schreckliche Vorstellung.
Dann müssen die beiden aufbrechen. Kassim hat wichtige Termine. Er pendelt nicht nur regelmäßig zwischen Damaskus und Homs, sondern auch zwischen Syrien, Österreich und der Türkei. Als »Emissär«, wie er sagt, als Gesandter der Rebellen. Auch seine Freundin ist froh, dass sie gehen kann. Ein bedeutsames Gesicht zu machen kann auf die Dauer ganz schön anstrengend sein. Viel lieber trägt sie ihr atemberaubendes Dekolleté spazieren.
Das genaue Gegenteil von Kassim sind die Brüder Zamar und Ali. Zamar hat angesichts der »gegen Syrien laufenden Medienkampagne« auf Facebook eine propagandistische Gegenoffensive gestartet. Sie heißt » DNN « – Damaskus News Network. Die offizielle Informationspolitik der Regierung hält er für lendenlahm.
Seine Facebook-Seite zeigt Bilder unvorstellbarer Aggressivität und Bestialität. Man sieht, wie Menschen langsam aufgeschlitzt, geschlachtet und anschließend in einen Fluss geworfen werden. Zamar, der aussieht wie der junge Fidel Castro, liebt es hart. Ich kann mir seine Bilder nicht ansehen. Sie sind zu blutig.
Zamar erfährt viel Zustimmung, aber auch Ablehnung. Und Morddrohungen. Die EU hat ihn auf ihre Sanktionsliste gesetzt. Offenbar fällt nur westliche Propaganda unter die europäische Presse- und Meinungsfreiheit. Aber das sei ihm egal, behauptet er. Er habe ohnehin nur ein paar Euro auf seinem europäischen Bankkonto.
Doch in Wirklichkeit sind ihm die Sanktionen nicht egal. Denn er darf nun nicht mehr nach Europa reisen. Und er fährt, wie die meisten wohlhabenden Syrer, gerne zu uns.
Zamar und Ali sind Zyniker geworden. Vom Westen, den sie einst liebten und bewunderten, sind sie politisch total enttäuscht. Nirgendwo werde so hoheitsvoll und scheinheilig gelogen wie im Westen. Ali lehnt inzwischen sogar Demokratie ab. Er wolle nicht, dass Syrien wie Griechenland ende.
Ali und der junge Kunstagent Kassim waren einst gute Freunde. Sie werden sich nie mehr gemeinsam an einen Tisch setzen. Obwohl beide Daniel Barenboim verehren. Pausenlos laufen auf Alis und Zamars Bildschirmen Barenboim-Konzerte.
Der Großmufti
Diese Spaltung des Landes möchte der Großmufti von Syrien, Ahmad Badreddin Hassoun, überwinden. Als oberster sunnitischer Geistlicher ist er einer der mächtigsten Männer Syriens. Er ist umstritten, weil er als Sunnit zu Assad steht und den überwiegend sunnitischen Aufstand kritisiert. Vor wenigen Tagen hatte er von meinem Besuch erfahren und mich nach Aleppo eingeladen. Da ich das zeitlich nicht einrichten konnte, hatte er sich ins Flugzeug gesetzt, um mich in Damaskus zu treffen.
Bei unserer Verabredung sind Julia und ich ausnahmsweise zu früh dran. Vor seinem Amtssitz vertreten wir uns die Beine. So sehen wir, wie er mit quietschenden Reifen ankommt. Aus einem Begleitfahrzeug springen Männer, die Maschinenpistole im Anschlag. Der Großmufti steht auf der Todesliste extremistischer Rebellengruppen. Da sie nicht an ihn herankommen, haben sie vor wenigen Wochen seinen 22-jährigen Sohn Saria erschossen.
Mit seinem weißen Turban und seinem weiten, schwarzen Umhang wirkt er imposant. Wir schätzen ihn auf Mitte vierzig. Doch er ist schon 62 Jahre alt. Er freut sich wie ein Schneekönig, als Julia ihm sagt, dass er wie 45 aussehe.
Den Mördern seines Sohnes hat er öffentlich vergeben. Sie haben seine ausgestreckte Hand zurückgewiesen. Anders als das viele Geld, das sie aus Katar erhielten. Rache lehnt er trotzdem ab. Nur wenn es gelinge, die Rache zu überwinden, werde man die Aussöhnung der Syrer erreichen. Seine Mundwinkel zucken, wenn er über seinen Sohn spricht. Er schaut zur Decke, damit man seine Trauer nicht sieht.
Obwohl er zu Assad steht, hat er einiges an ihm zu kritisieren. Das brutale Verhalten der Sicherheitskräfte in Daraa sei nicht hinnehmbar. Er habe den Präsidenten aufgefordert, die Verantwortlichen zu entlassen. Assad müsse sich dringend von einigen Mitgliedern der »alten Riege« des Regimes trennen. Das weitgehende Einreiseverbot für ausländische Journalisten hält er für kontraproduktiv.
Er unterstütze Assad, weil dieser reformfreudiger sei als die meisten Staatschefs der arabischen Welt. Und weil er – wie jeder wisse – nicht bis an sein Lebensende Präsident sein
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