Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
auf eigenen Wunsch handelte, war ein einfaches ärztliches Zeugnis ihres Hausarztes ausreichend gewesen. Hätte aber ein anderer die Betreuungsnotwendigkeit überprüfen lassen wollen, wäre sie ausführlich begutachtet worden. Helenes Starre löst sich ein wenig, sie glaubt zu wissen, dass sie nach einem gutachterlichen Prozess nicht mit einer Betreuungspflegschaft,die für sie, wenn sie ehrlich ist, ja eigentlich doch nichts anderes ist als eine Entmündigung, zu rechnen hätte. Aber unsicher ist sie doch geworden. Sie zittert, aber es ist wohl der Schmerz. Also klingelt sie nach der Schwester, muss sich jetzt doch irgendetwas verabreichen lassen gegen die Kolik, ehe sie plattgewalzt wird.
Gallenkolik? Das könnte ja nun wohl alles Mögliche sein, meint die Schwester. Aber Helene kennt doch diese Attacken! Sie weiß doch, wie sie sich anfühlen! Sofort wird sie mutlos, vielleicht ist sie ja längst entmündigt , ohne es mitbekommen zu haben. Das Verhalten der Schwesternschaft lässt jedenfalls zuweilen darauf schließen. Nein, sie will darauf bestehen, ein Zäpfchen gegen die Kolik zu bekommen, aber die Schwester sagt nur, dass es ja wohl ziemlich gewagt sei, verordnete Medikamente nicht einzunehmen, aber andere einfordern zu wollen. Sie wären doch hier nicht im Selbstbedienungsladen! Ohne dass ein Arzt draufschaut, liefe hier gar nix! Schon klackt die Tür, ist sie fort.
Helene liegt längst in Schmerztrance, als endlich ein Arzt erscheint, sie untersuchen will, aber sie bekommt gar nicht genau mit, was er sagt, was er fragt. Wenigstens ist das keiner von denen, die ihr heute Nachmittag einen Einlauf gemacht haben wegen des Antiepileptikums, vielleicht kommt er von draußen, hat nur Notdienst hier? Eine Spritze verabreicht er schließlich, und Helene spürt wenige Minuten danach die befreiende Erleichterung. Jetzt wäre sie bereit und in der Lage, auf seine Fragen zu antworten, aber natürlich ist er längst fort.
Sie dreht sich auf die Seite. Fühlt sich geschwächt.
Die haben doch tatsächlich mit Matthes wegen eines möglichen Betreuungsverfahrens gesprochen! Sie fasst es nicht. Sie ist doch Herrin aller ihrer Sinne! Sie sieht, hört, schmeckt, fühlt, riecht! Sie kämpft doch! Sich aus dem Komakokon herauszuschälen, hat sie die meiste Kraft gekostet, meint sie, und alles, was noch kommt, wird zu bewältigen sein. Muss zu bewältigen sein! Wenn einer die Hand ausstrecken will, ihr zu helfen, reagiert sie überempfindlich, versucht alles allein, gerät in Rage, wenn sie sich eingestehen muss, dies und das jetzt nicht und vielleicht nie mehr tun zu können. Klavierspielen zum Beispiel. Hat sie deshalb die Musik ziemlich abgeschaltet? Bis auf Bengts Oboe nichts an sich herangelassen, was die Kinder und Matthes ihr mitgebracht hatten, CDs und einen mobilen Player, Kassetten und einen uralten Walkman. Klaviermusik? Früher war sie ihre liebste Begleitung gewesen, beim Autofahren, beim Wäscheaufhängen, vor dem Schreiben, wenn sie auf Rausch aus gewesen war dazu. Jetzt hat sie lieber Stille im Kopf. Eine Wohltat. Ein Trost, aber doch merkwürdig, so ohne Tröstung. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Trost und Tröstung? Ein Trost, überlegt sie, ist für sie etwas Momentanes, während eine Tröstung anhält. Ja, so ungefähr. Immer wieder muss sie sich der Worte vergewissern, aber ob das, was sie dazu denkt, richtig ist, weiß sie nicht. Nicht genau. Nicht genau genug, denkt sie. Auch das macht sie fuchsteufelswild. Außerdem beobachtet sie die Leute viel genauer als früher, findet sie, und erliegt oft genug der paranoid anmutenden Idee, das, was sie zeigen, sagen, meinen, bezöge sich auf sie. Auf ihren Zustand. Auf ihr Unvermögen. Geradezu neurotisch findet sie das. Eine Neurosendefinition fällt ihr zwar nicht ein, aber das Wort lässt sich auch ohne Definition gebrauchen. Sie muss wieder Sicherheit finden im Gebrauch der Worte. Sich nicht abhalten lassen, eines zu gebrauchen, wenn ihr im Moment des Aussprechens plötzlich unklar zu sein scheint, was es meint. Wieder ohne überlegen zu müssen sprechen zu können! Das kann sie nicht, zugegeben, aber ihre Wahrnehmung der Dinge steht doch wohl nicht zur Diskussion. Sie kann sich Meinungen bilden, wenn sie dafür auch viel länger braucht als früher. Wie sagte Matthes? Du bist doch nur endlich normal geworden … Wenn das stimmte, so brauchte sie, um sich eine Meinung zu bilden, vielleicht aber auch nicht viel mehr Zeit als andere Leute. Aber stimmte
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