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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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Gegenübers Speichelblasen beim Reden zeigten? Wahrscheinlich würde auch Helene sie gar nicht bemerken. Die Beunruhigung verzieht sich nun ebenso schnell, wie sie aufgetaucht war. Das ist neu. Sie möchte mehr davon erfahren, wie sie auf andere wirkt. Nehmen sie sie als geistig beeinträchtigt wahr? Als behindert? Wundern würde es sie nicht, sie kann so oft ihre ersten Reaktionen nicht kontrollieren, ärgert sich noch immer maßlos über spontanes Grinsen, Lächeln, Mundverziehen, über Jaja und Neinnein …
Und da ist sie auch sofort wieder, die Beunruhigung.
Helene hat gar nicht zugehört, was die Ärzte auf ihren Satz antworteten, fällt ihr auf. Die Beunruhigung verdoppelt sich auf der Stelle. Sie ist ein abgehängter Karren, der ohne Pferd seine Richtung nicht findet. Nicht einmal dessen »Räder« scheinen sich auf einen Kurs einigen zu können: Sie fühlt Arme und Beine in stetem Widerstreit. Beunruhigung verdreifacht.
Haben Sie nicht auch schon daran gedacht, sich einem Betreuungsverfahren zu unterziehen, Frau Wesendahl? Zum Beispiel könnte Ihr Mann vorübergehend zum Betreuer bestellt werden, da bräuchten Sie sich erst einmal um nichts mehr zu kümmern …
Ach, was reden die da, da hört sie doch gar nicht mehr hin, das wird ihr jetzt aber zu viel, die Kapazität, denkt sie, mit Matthes wollte sie über die Kapazität reden und nicht über ein – Betreuungsverfahren? Das will sie gar nicht wissen, das schiebt sie jetzt erst einmal irgendwo in ein bereitstehendes Schubfach. Lade zu. So.
Die Stimmung kippt. Freundlich werden die Leute! Wo nehmen die das jetzt her? Ihr ungläubiger Blick wendet sich ins Misstrauische. Hab acht, sagt ihr Bauch, da ist was im Busche, da rollt was an, was du nicht übersiehst, was dir aber gewaltige Bauchschmerzen verursachen kann, wenn du nicht aufpasst. Was ist das nur?

Heute gab es Räucherfisch zum Abendbrot. Gewaltige Bauchschmerzen. Helene spürt den Schmerz vor allem im Oberbauch, einen wohlbekannten Druck, der sie seit der Lottchenschwangerschaft in Ruhe gelassen hat. Die Galle. Nur gut, dass die auch noch da ist, denkt sie spöttisch, verzieht aber gequält das Gesicht. Mist. Als ob es der Galle aber auch nicht reiche, was mit ihrem Körper alles geschehen ist in den letzten Monaten! Sie drückt, massiert die Gallengegend, aber der Schmerz flieht geradezu vor ihren Fingern in unzugängliche Regionen und wird stärker. Jetzt ist er im Rücken zugange.
Aber reicht es der Galle nicht eigentlich? Der Fisch hat ihr doch gereicht, sie hat darauf reagiert und ist dabei, eine Kolik zu entwickeln!
Was ist reichen für ein Wort?
Als ob es nicht reiche? Aber es reicht?
Sie bezweifelt, dass es sich um ein und dasselbe Verb handelt. Es verwuselt im Kopf den Verstand, der sich verwahren will gegen solche Angriffe. Das ist ja wie mit den doppelten Verneinungen, denkt Helene. Das ist ja furchtbar! Das bekommt sie doch tatsächlich nicht auseinander! Der Fisch hat der Galle gereicht, das schon, aber was reicht der Galle denn nicht? Ganz langsam. Noch einmal. Und noch mal. Es reicht der Galle nicht, was dem Körper zustieß im letzten Vierteljahr, sie muss ihren Senf auch noch dazugeben. Ja. Aber warum im Konjunktiv? Als ob es nicht reiche? Nein, das wird ihr zu viel, sie will das nicht überblicken, sie schiebt es weg, und gerade, als sie dabei ist, es in ein Schubfach zu packen, springt ein anderes daneben ein Stückchen auf.
Betreuungsverfahren.
Sie erstarrt.
Als sie noch im Feldberger Ring gewohnt hatten, war für eine alte Frau nebenan ein solches Verfahren in Gang gesetzt worden, auf ihren eigenen Wunsch hin. Sie vergaß so viel, die Demenz saß ihr im Nacken. So schöne lichte Momente hatte sie gehabt, dass Helene sich gern mit ihr in der Küche getroffen hatte zum Nachmittagskaffee. Das weit Vergangene saß fest, während sie oft nicht mehr wusste, hinter welcher ihrer drei Türen sich die Toilette befand, wo sie die Kaffeesahne hingestellt oder dass sie keine Strümpfe angezogen hatte, obwohl es nicht warm war. In einem der lichten Momente hatte sie zu Helene davon gesprochen, sich entmündigen lassen zu wollen, damit sie keinen Unsinn anstellte, wenn das Licht sie verließ, und sie hatte Helene gebeten, ihr dabei zu helfen, die nötigen Schritte einzuleiten. Seit Anfang der Neunziger gab es aber Entmündigungsverfahren in der Bundesrepublik nicht mehr, sie wurden durch die Betreuungsanordnung ersetzt, die in einem gerichtlichen Verfahren getroffen wurde. Weil Frau Schwörer

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