Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
jungen Assistenzarzt, der mit viel Ruhe und Gelassenheit ans Werk geht. Für den weiten sich doch die Venen von selbst, denkt Helene und glaubt für den Moment, sich einen diesbezüglichen Impuls durch den Körper gejagt zu haben. Tatsächlich findet er zeitgleich die richtige Stelle, und zwar genau da, wo Helene angegeben hat. Genugtuung beim Arzt, bei ihr nicht minder. Während das dicke Blut in die Röhrchen läuft, teilt sie ihm plötzlich im Ton heiterer Nebensächlichkeit mit, das Ergenyl chrono nicht mehr genommen, sondern ausgeschlichen zu haben. Lächelt ihn an. Sein fragender Blick macht ihr klar, dass er ja gar nicht Bescheid weiß, natürlich.
Ergenyl chrono?
Nicht nur sein Blick fragt, auch die Stimme tut es.
Sie muss überlegen, wie sie ihm das am besten erklären kann. Ihr graut vor längerem Reden, sie weiß, dass sie nur ein oder zwei Sätze im Voraus überblickt und dann unweigerlich ins Stocken gerät, um erneut ein oder zwei Sätze bewusst vorwegzunehmen. Wenn sie ihr Sprechtempo besser steuern könnte, langsamer sprechen, würde das womöglich niemandem auffallen, denkt sie, aber noch immer will sie freiweg plappern wie einst und gerät nicht nur sprachmotorisch schwer ins Stolpern. Zwar hatte sie auch früher schon mitunter als große Schweigerin gegolten. Es war ihr immer dann schwergefallen, in größeren Gruppen zu reden, wenn das, was sie zu sagen hatte, ihr allenfalls wie eine Wiederholung von Altbekanntem vorgekommen war. Lediglich, wenn sich ein in ihrem Kopf als taufrisch bewerteter Gedanke gezeigt hatte, hatte sie zu reden begonnen. Zudem galt sie in Gruppeninteraktionen als harmonisierend, zusammenfassend und klärend, und sie hatte oft gar nicht verstehen können, wie häufig sich die anderen Gruppenmitglieder wiederholten, offenbar ohne es zu merken. Daraus hatte sie mit den Jahren begriffen, dass sie tatsächlich das Sprechen der anderen von diesen abweichend wahrnahm: Sie strukturierte es, ihr Unbewusstes setzte es in größere Zusammenhänge, und so schwieg sie, bis sich ein Knotenpunkt offenbarte, an dem etwas Neues möglich wurde.
Aber es hatte zudem sehr intime, private Momente gegeben, in denen sie frei von der Leber weg losgelegt hatte, es war ihr ein Leichtes gewesen, spontan in gereimter Rede, mit exaktem Versmaß, zu sprechen, sie hatte Witze am laufenden Band zum Besten gegeben, sie hatte Worte und ganze Sätze im Kopf von hinten nach vorn »vorlesen« können: etllow run eis eiw . Das hatte ihr Bewunderung eingetragen, deren Gründe sie zuerst gar nicht hatte einordnen können, so selbstverständlich war ihr vorgekommen, dass sie das konnte.
Nichts davon geht mehr.
(Zur Beruhigung flüstert sie sich manchmal ein, dass so ein Gehirnchen, wenn es zerschnitten wurde, erst einmal fertig werden muss mit dem Schrecken. Dass es sich später, viel später erst zeigen wird, welche Funktionen unter den lebenswichtigen, die es ja unzweifelhaft wiederaufzunehmen bereit ist, versteckt sind und sich vielleicht eines schönen Tages erst einmal faul räkeln werden, ehe sie hervorkommen …)
Der Arzt scheint ihren Gedankenlauf durch den Hindernisparcours zu ahnen, er bietet an.
Sie haben eine Epilepsie? Ergenyl ist eigentlich nicht schlecht verträglich, was nehmen Sie denn stattdessen?
Nichts , antwortet sie dankbar und leichthin, und der Arzt hat verstanden. Sagt nichts. Hält sie vielleicht für nicht zurechnungsfähig? Sie sieht, wie es hinter der Stirn arbeitet. Er lässt sie die Hand öffnen, knotet den Stauschlauch auf, zieht die Kanüle, aber sagt nichts mehr.
Am Nachmittag wird sie zur Stationsleitung gebeten. Drei Ärzte, zwei Schwestern haben sich eingefunden. Das Gespräch ist ähnlich geladen wie jenes zur Psychologie, die sie abgewählt hatte. Sie könne doch nicht einfach. Sie dürfe das nicht. Was verordnet ist. Ist verordnet. Sie alle hätten sich doch was. Dabei gedacht. Im Gegensatz zu ihr. Sie müsse. Zurückstecken. Die Verantwortung trügen sie. Nicht Helene.
Was, ich trage keine Verantwortung?
Da sind sie doch verblüfft, über den aufbrausenden Ton der bis dahin kläglich schweigenden Helene. Die fragt sich, und sie spürt genau die einschießende Beunruhigung, ob die Ärzte die Speichelblasen gesehen haben, die sich an ihrem Mund bildeten, während sie diesen einen Satz sagte. Sie schaut sie an, aber nichts in den Gesichtern deutet darauf hin. Womöglich sind sie so schnell zerplatzt, dass sie nicht wahrgenommen wurden. Wie erginge es ihr, wenn sich am Mund eines
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