Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Helene.
Natürlich! Das ist Peter Preißler, ein Mitschüler von Matthes, den sie vor Jahren in der S-Bahn getroffen und dann bei einem Klassentreffen wiedergesehen hatten! Ja, Preißler, wiederholt er ungerührt. Wundert sich nicht, dass Helene seinen Namen kennt. So verblüfft ist sie, dass sie einen Moment lang nicht auf den rechten Fuß achtet und stolpert. Er hält sie, fängt sie auf. Er lohnt sich, muss sie denken, grinst unfreiwillig. Als sie am See sind, kehrt er um, grußlos, wortlos, mit demselben urfreundlichen Gesicht wie während des Abstiegs. Sie möchte ihn zurückhalten, hat Angst, allein wieder hinaufziehen zu müssen, lässt es aber schließlich sein. Sieht sich stattdessen um. Der Feuerplatz zeigt frische Brandspuren. Sie rätselt, ob Patienten aus der Rehaklinik hier zündeln. Eigentlich ist das Gelände an allen Seiten abgezäunt, aber wer will, findet bekanntlich überall einen Weg. Sie setzt sich, sieht den Enten und Lietzen zu, zwei Schwäne kommen von ferne näher.
Preißlers Bewusstseinszustand gibt ihr Rätsel auf. Was hat er? Er scheint ganz für sich zu sein. Bei sichtlichem Wohlbefinden ist er Peter, Preißler erst in zweiter Linie, wenn er darauf gebracht wird, aber es scheint keine Bedeutung zu haben. Er spricht nicht, aber sie spricht ja ebenso wenig. Sie sieht mufflig aus, er heiter und unbeschwert. Sie ist nicht mufflig. Ist er etwa nicht heiter und unbeschwert? Wie man sich in ihrem Gesichtsausdruck täuschen kann, so kann man sich auch in seinem täuschen, denkt sie. Verletzt sieht er nicht aus, auch nicht frisch operiert. Als sie ihn das erste und zweite Mal sah, ging er nicht am Stock und hatte einen frischen, federnden Gang. Eine Stimmungskanone war er, beim Klassentreffen erzählte er Witze am laufenden Band. Einer fällt ihr sogar ein, ihre mufflige Miene hellt sich auf. So laut und raumgreifend war er in seinem Wortwust gewesen, dass sie Matthes sogar gebeten hatte, sich ein Stück weiter wegzusetzen, als ihm auf der Pelle zu hocken. Matthes war erleichtert aufgestanden und drei Tische weitergegangen zu Claudia, einer – oder seiner? – Schulfreundin, Helene im Schlepptau. Dort fanden sie sich alsbald in guter Gesellschaft, und für Claudia fallen ihr sogar Worte wie bezaubernd und entzückend ein. Peter Preißlers dröhnender Bass war zu einer gewissen Dezenz abgedimmt worden durch die Entfernung. Peter, hatte er mit dünnem Stimmchen gesagt …
Helene muss Matthes von ihm erzählen, unbedingt.
Während sie sitzt, zieht die Sonne über sie hinweg und nimmt die Schatten mit hinter den Wald. Bald wird es dunkel. Vorher muss sie es nach oben geschafft haben, aus Angst, die Absätze nicht gut sehen zu können. Langsam geht sie los, wird Schritt für Schritt ein wenig sicherer. Als sie die letzte Krümmung nimmt, leuchten die Lampen am Weg auf.
Na so was, die hatte sie gar nicht gesehen bislang.
Weil sie beim Laufen immer nach unten guckt …
Vier Mal setzt sie zur Erklärung an, warum sie an psychologischer Hilfe nicht interessiert ist. Vier Mal kommt sie über Satzanfänge nicht hinaus, verheddert sich, wird rot, bricht ab. Die Stationsärztin will ihr einen Stift geben, als ihr einfällt, dass Helene Rechtshänderin ist. Die nutzt den Moment der Ratlosigkeit, um ihren Laptop zu holen. Der ist an, weil sie vorhin in alten Mails gestöbert und versucht hat, verlorene Zeit zu rekonstruieren. In vollendetem Deutsch schreibt sie auf, was sie unter psychologischer Hilfe versteht und warum eine solche von hiesiger Psychologin nicht zu erwarten ist. Schließlich hat sie schon genügend Zeit bei ihr verbracht, um sich ein Bild davon machen zu können. Die Stationsärztin hält das offenbar für hochnäsiges Gewäsch, jedenfalls wischt sie es mit einer Geste unbeherrschter Abwehr vom Tisch. Die Schwester hingegen kann Helene wohl verstehen, versucht, noch einmal auszudeuten. Das hätte sie lieber nicht machen sollen. Ärzte haben es eben nicht gern, wenn in der Hierarchie weit unter ihnen rangierende Chargen etwas tun, was einem Belehren gleichkommen könnte, denkt Helene. Sie seufzt, sagt aber dann laut und langsam, dass sie nicht erst ab sofort mit der Psychologie, wie sie hier in der Klinik angeboten wird, abgeschlossen hat für sich. Die Ärztin will aufbegehren, murmelt etwas von »die längste Zeit hier gewesen«, gibt aber doch auf. Helene freut sich über ihr Starkbleiben. Und auf die progressive Muskelrelaxation, die jetzt auf dem Programm steht.
Zu zehnt sitzen sie in dem
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