Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
die Nachbarn. Es muss wohl das Haus in der Arberstraße sein, in dem sich das abspielt. Als sie Putin ihr Geschenk abnehmen will, tritt Snjegurotschka mit schmeichelndem, forderndem Lächeln dazwischen. Snjegurotschka sieht plötzlich alt aus, wie sie da steht und grinst, Snjegurotschka hat einen Bartanflug und Kupferfinnen im Gesicht, einen verrutschten Schminkmund und gefärbte Brauen. Ihr Haar ergraut zusehends, und als sie Helene mit dem Finger lockt, ist der ziemlich lang und altersfleckig. Helene weiß selbst im Traum, an wen sie das erinnert. Lieber will sie aufwachen, aber so leicht lässt sich der Traum nicht abschütteln. Snjegurotschka fängt, im Gegenteil, erst richtig an und beginnt, sich langsam, strippend, auszuziehen. Schließlich steht sie mit einem roten Angorapullover, sonst aber nackt vor ihren Augen. Ihr Grinsen ist verschwunden, sie sieht jetzt müde und traurig aus. Findet wohl selbst, dass es Zeit ist, sich zu verabschieden.
Helene erwacht?
Sie weiß lange nicht, ob sie wach ist.
Ihre Ohren klingeln.
Früher klingelten ihrer Mutter die Ohren. Dann sagte sie immer, jemand spricht über mich , steckte die Zeigefinger in die Gehörgänge und ruckelte sie zurecht. Spricht jemand über sie? Je länger sie sich vorstellt, jemand spräche über sie, desto klarer sieht sie Maljutka Malysch.
Mit wem spricht sie?
Nein, das kann aber jetzt nicht sein. Bestimmt schläft sie noch. Sie drückt sich tiefer ins Kissen, zieht die Decke nicht nur über die klingelnden Ohren, sondern auch über die Augen.
Das Bild bleibt. Maljutka Malysch spricht mit Wladimir Wladimirowitsch Putin, in ihrem vorzüglichen Russisch. Spricht sie so gut, dass Helene nicht versteht, worum es geht? Sie will näher heranrücken, um etwas mitzubekommen. Jetzt kann sie erkennen, dass Maljutka einen Bart trägt und sehr kurze Haare, dass keine Brüstchen sich unter ihrem Hemd zeigen und ein Schlips, als wäre er zu eng geknotet, den Adamsapfel hüpfen lässt, und plötzlich weiß sie, was sie da sieht: Maljutka hat es ihr erzählt, kein Siegel der Verschwiegenheit hatte die Geschichte plombiert, die ohnehin nicht sie betraf, sondern einen Mann gleichen Zu-, aber anderen Vornamens. Während das Forschungsstudium in Dresden in den letzten Zügen lag, hatte der Chor, dem er damals angehörte, eine Westreise geplant. Viktor Malysch hatte eine gewisse Aufregung gespürt, aber zugleich keine Anstalten gemacht, an ein Fort-, ein Dortbleiben zu denken. Eines Tages, es mögen sechs oder acht Wochen vor der Chorfahrt gewesen sein, hatte sich ein Mann mittleren Alters neben ihn gesetzt in der Mensa, ihn versehentlich, wie er zunächst dachte, mit Sauce bespritzt. (Aber das macht doch nichts, das kriegen wir schon wieder raus!) Sie waren ins Gespräch gekommen, der andere hatte sich als passionierter Volksliedforscher vorgestellt, der eine umfängliche Sammlung an Tonbeispielen besitze. Mit seinem Tesla-B 4 -Gerät habe er schon in den Sechzigern aufgenommen, was nur aufzunehmen gewesen war. Im Erzgebirge, im Harz, an der See, aber auch im Kaukasus, in der Puszta oder in Masowien hätte er gesammelt.Er lud Viktor ein, sich das anzusehen und vor allem anzuhören. Zuvor könnten sie doch noch was essen gehen? Er würde sich revanchieren wollen für die Kleckerei vorhin und bat Viktor für einen Abend in der nächsten Woche in die Gaststätte »Am Thor«, Platz der Einheit. Viktor hatte zu tun, jemanden zu finden für die Söhne. Bei der Gelegenheit fiel ihm auf, dass er eigentlich jeden Abend mit den beiden verbrachte und sich auch den ganzen Vormittag darauf freute, sie nachmittags aus der Krippe holen zu können. Seine Frau arbeitete oft Spätschicht, sie war Krankenschwester, und wenn sie Früh- oder Nachtschicht hatte, nutzte sie die Zeit, die Viktor zu Hause war, zum Schlafen. Sie hatten sich selten gesehen in letzter Zeit, auch an den Wochenenden arbeitete seine Frau häufig. Nächste Woche hatte sie Spätschicht, vielleicht würde die Cousine einspringen können? So lange schon hatte er sie nicht mehr gefragt, dass er einen Augenblick lang überlegen musste, wie sie eigentlich hieß. Sah sie vor sich, die grüngrauen Augen, die sehr blonden Haare, aber ihr Name wollte ihm erst nach längerem Kramen einfallen. Jakobine hieß sie. Ein schöner Name. Er hätte einen der Söhne gern Jakob genannt, aber seine Frau hatte ihnen die Namen Tim und Tom gegeben, mit denen er sich erst anfreunden konnte, als er ihre Gesichter einen Tag lang immer wieder
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