Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
Vom Netzwerk:
die Augen, sieht den Adamsapfel über dem vermutlich zu eng geknoteten Schlips auf und nieder gehen.
Sie glaubt zu wissen, aber zusammen kriegt sie es nicht.

Später staunt sie. Staunt darüber, was ihr Gedächtnis preisgibt. Weiß sie so viel über Viola? Matthes hat ihr zum Beispiel so detailliert nie von seiner Schulzeit berichtet, war überhaupt kurz angebunden, wenn es um Vergangenes ging. Ausgenommen die immer wiederkehrende Geschichte des Drittklässlers, der fünf Tadel und drei Lobe wegen sehr guten Fleißes auf seinem Zeugnis bescheinigt bekommen hatte, die er immer dann als Alibierzählung vorbrachte, wenn irgendjemand nach Schule fragte. Sie kannte Viola erst seit einem Jahr, Matthes seit sechsundzwanzig … Das Gefühl der Vertrautheit hingegen, das sie mit Matthes teilt, hat sie in ihrem Verhältnis zu Maljutka Malysch nicht auffinden können. Noch etwas, was sie nicht so einfach zusammenkriegt: Vertrautheit mit einem Menschen hängt offenbar nicht davon ab, wie viel man über ihn weiß.
Wie zum Beweis fährt ihr Matthes in diesem Moment mit seiner Wirbelsäule über ihre, sie kann seine Dornfortsätze spüren, wie sie an ihren abrutschen und wieder hinauf, und obwohl sie voneinander abgewandt liegen in ihren Gedanken, kann sie sein wohlig verzogenes Gesicht sehen und seine Arme, die er auf die Schenkel stützt.

Nu aber mal ’n bissken Tempo hia! So jeht das doch nich! Se könn doch nich einfach Ihre Therapien verpenn’n! Ick hab jetze dreimal Nachricht, ditt Se nich zur Psycholojie warn! Wollnsenich?
Nee, willsenich.
Die Schwester balinat . Als Helene nach Berlin zog, war das Thüringische noch zu hören gewesen, hatte sich allerdings schnell verloren. Wie klingt ihre Sprache jetzt? Sie hat keine Lust auf eine Diskussion mit der Dame. Stattdessen schaut sie auf ihren Plan: In der Tat, Psychologie steht an. Sie seufzt, erhebt sich.
Na ja, jehtseehmt.
Als der Fahrstuhl in der unteren Etage ankommt, öffnet sich gerade die Tür zur Cafeteria, und von dort kann man das Freie sehen. Nein, sie geht nicht zur Psychologie.
Draußen umschmeicheln sie klare Luft und Sonne um die Wette, sie braucht keinen Schal und keine dickere Jacke.
Warum sie es ablehnt, zur Psychologin zu gehen? Sie fühlt sich schlecht behandelt von ihr. Fragt sie die Leute nicht nach ihrem Beruf, ihrem Leben vor der Reha , zu der sie hier angerückt sind? Offenbar nicht. Sie ahnt nicht einmal, dass Helene selbst ein Jahrzehnt lang als Psychologin gearbeitet hat. Die Kommunikation verzieht sich, wird schräg. Helene meint nicht, dass sie es hätte offenlegen müssen. Wenn es die andere Seite nicht interessiert, wirft das ein ungutes Licht auf deren abgelederte Arbeitsweise. Ein anamnestisches Gespräch gehört einfach dazu, findet sie, egal, unter welchen Voraussetzungen man an einen Patienten gerät. Bis heute hat das aber nicht stattgefunden, und es sieht nicht so aus, als stünde es auf dem Plan. Dann kann sie sie mal, denkt sich Helene, und wenn sie gefragt werden sollte, würde sie das auch zu Protokoll geben. Basta.
Jetzt also Frischluft. Es ist noch einmal so warm geworden, dass sie am liebsten Schuhe und Strümpfe auszöge und barfuß auf Wegen und Rasen wandelte. Sie wagt sich bis zum Beginn der Serpentinen in Waldrichtung, als sie ihn wieder sieht: den Mann an der Krücke, mit dem unrunden, sicheren Gang. Sie glaubt, ihn schon gesehen zu haben. Er kommt mit recht schnellem Schritt näher, will vermutlich auch zum Wasser. Als er sie erreicht hat, fasst sie sich ein Herz: Ob er sie wohl nach unten begleiten und gegebenenfalls stützen würde? Er lächelt gleichmütig. Nickt. Fasst sie forsch am Arm, dass sie erschrocken ist, aber schließlich fühlt es sich sicher an, mit ihm den Weg hinunterzugehen. Sie schweigen. Er scheint sich unverändert wohlzufühlen dabei, ihr ist solcherart Schweigen immer unangenehm. Sie merkt, wie wenig angebracht das ist, denn der Mann sieht charmant und unbeschwert aus. Sagen muss sie wirklich nichts. Ihr fällt auch nichts ein. Sie beschließt, es ebenfalls mit heiterer Aufgeräumtheit zu versuchen, setzt ein frohgemutes Gesicht auf. Nein, das wird nichts. Wie eine Klammer kommt ihr das vor, was ihr das Lächeln im Gesicht hält. Sie lässt die Muskeln wieder los. Wahrscheinlich sieht sie mufflig aus, wie ihre Mutter früher gesagt hat. Immer siehst du mufflig aus, kannst du nicht mal ein bisschen anders gucken? Nein. Kann sie noch immer nicht.
Peter , sagt der Mann auf einmal.
Preißler , sagt

Weitere Kostenlose Bücher