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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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Matthes hatte sich rausgehalten, den Heilpraktiker jedoch okkulter Machenschaften bezichtigt, wenn man seine gelegentlich eingestreuten Bemerkungen ernst nahm. Und nun hat er ihn hierher geschleift? Er gibt ihr die Hand, kein Lächeln zeigt sich auf seinem Gesicht, und geht schnurstracks zur Tür.
Was soll das?
Die Frage blubbert, Speichelbläschen platzen.
Matthes beantwortet sie, zögerlich.
Ja, er hat den Dr. Müller heute früh gebeten, ihr einen Krankenbesuch abzustatten. Matthes glaubt nicht an Epilepsie als Krankheit. Was vor zwei Tagen passiert ist, war als Reaktion bei vorgeschädigtem Hirn zu erwarten gewesen, wenn auch nicht in diesem Ausmaß. Immerhin war beim Platzen des Aneurysmas Blut ausgetreten, das garantiert noch nicht vollständig resorbiert worden ist. Die Anfallbereitschaft war schon durch die gut leitenden Eisenteilchen des Blutes gegeben, aber das auslösende Ereignis sei von erheblicher Wucht gewesen.
Wucht.
Das Wort geht um. Beinahe kann sie ihm zusehen bei seiner Wanderung durch die Windungen der Großhirnrinde. Andere Wörter reißt es mit, reißt sie schmerzhaft aus ihren Abteilen: Wacht. Flucht. Sucht. Macht. Schlucht. Schlacht. Unangenehme Wörter, allesamt. Sie will sie irgendwie daran hindern, Maljutka Malysch aufzufinden, aber sie sind schon nahe daran, sie aufzustören. Ein, zwei Kreiselbewegungen noch, dann sind sie angekommen und zerren Maljutkas Tod aus dem Ablagefach. Die Wucht schlägt zu. Matthes steht auf Wacht. Keine Flucht möglich. Maljutka war eine Sucht, die mit Macht Besitz ergriffen hatte von ihr. In der Schlucht der Ohnmacht hatte sie daran nicht denken müssen, die Schlacht war geschlagen worden ohne sie. Mit welchem Ergebnis? Maljutka ist tot. Jetzt, da die Augen ausgeweint sind, die Sinne halbwegs lahmgelegt, traut sie sich, nachzufragen.
Fragt nach.
Matthes antwortet.
Eine Schicht Wachs splittert auf seinem Gesicht, als er spricht, Stückchen davon krümeln ab, auf den Boden. Er hat einen Brief mit schwarzem Rand geöffnet, der für Helene bestimmt war. Versehentlich, wie er sagt. Sie glaubt ihm, hat keinen Anlass, daran zu zweifeln, zumal die Namen der Absender keine Assoziationen in ihm ausgelöst haben dürften: Maljutkas Söhne Tim und Tom, nicht Malysch, hätten eine Todesanzeige geschickt. Auf Matthes’ Nachfrage hätten sie mitgeteilt, dass das Adressbuch ihres Vaters nur wenige Anschriften enthalten hätte. Die von Helene Missbach wäre von einer roten Schlangenlinie eingefasst gewesen. Auch den Mailwechsel von Helene und ihrem Vater Viola hätten sie auf ihrem Computer gefunden und wären daraufhin von einer engen Beziehung ausgegangen, zumindest bis zum Mai dieses Jahres, als ein plötzlicher Abbruch stattgefunden haben musste. Jedenfalls hätten sie es für besser gehalten, die wenigen Personen im Adressverzeichnis vom Tod ihres Vaters Viola Malysch in Kenntnis zu setzen.
Das erzählt Matthes, und Helene sieht ihm die Not an, es tun zu müssen und es kaum zu können. Dennoch blubbern weiter Fragen.
Wie ist sie gestorben?
Matthes erzählt, als sei er dabei gewesen.
Ungefähr so: Die Jungen standen ( seit wann? seit Mai!) wieder in Kontakt mit ihrem Vater. Jenseits der Volljährigkeitsgrenze hatten sie sich der Mutter widersetzt und Viola gesucht. Nein, aufgesucht. Die Rührung verschlug auch ihnen die Sprache, als ihr Vater nicht sprechen konnte vor Aufregung. Immer wieder rollte er ihre Köpfe in seine Arme ein und nahm sie zur Brust. Da war mehr Brust, als sie sich von ihrem Vater hatten vorstellen wollen, aber das machte ihnen in diesem Moment nichts mehr. Von da an kamen sie wieder und wieder. Zum Erzählen. Sie sprachen sich leer für Augenblicke, aber immer rollten Wogen Erzählstoffs nach, und auch Viola versuchte, sich wieder ins Bild zu setzen, das sich die Söhne von ihrer Kindheit machten. Oft schliefen sie bei ihrem Vater, den sie weiter Vater nannten im Erzählen, aber mit seinem Violanamen anredeten, eine Selbstverständlichkeit wurde das, die ihnen gar nicht mehr auffiel. Viola gab ihnen schließlich einen Schlüssel zu ihrer Wohnung, weil sie manchmal spät noch eintrudelten, wenn sie in Potsdam unterwegs gewesen waren und nicht mehr nach Hause kamen. Den ganzen Juni über waren die Jungen dann in Frankreich. Als sie Anfang Juli zurückkamen, wunderten sie sich schon an der Treppe zu Violas Wohnung über den überquellenden Briefkasten. Im Schlafzimmer fanden sie sie, im Bett, schön zugedeckt, als sei ihr kalt gewesen. Tim wollte nicht

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