Die Eingeschworenen Raubzug
KAPİTEL 1
Runenzeilen sind wie gewundene, reich verzierte Bänder. Sie gleichen der Weltschlange, die sich selbst in den Schwanz beißt. Eigentlich sind alle Geschichten verschlungene Schlangenknoten, denn nicht immer fängt das Leben mit der Geburt an und endet mit dem Tod. Auch mein eigenes Leben fängt erst mit meiner Wiederkehr von den Toten wirklich an.
Ich sah einen Balken über mir, knorrig und glattpoliert von den Netzen und Segeln, die darüberhingen. Eine Spinne, in der Kälte gestorben, wehte im Luftzug an einem Seidenfaden und verschwamm vor meinem Blick.
Ich kannte diesen Balken. Es war der Firstbalken des Naust, des Bootshauses von Björnshafen, und an diesen Netzen und Segeln hatte ich geschaukelt. Geschaukelt und gelacht, sorglos, in einem anderen Leben.
Ich lag auf dem Rücken und sah auf zu ihm und verstand nicht, warum er da war, denn ich war doch tot. Und dennoch formte mein Atem Dampfwölkchen in dem kalten Raum.
»Er ist aufgewacht.«
Es war eine knarrende Stimme, und wieder kippte und schaukelte alles, als ich versuchte, meinen Kopf in die Richtung zu drehen, aus der sie kam. Ich war nicht tot. Ich lag auf einer Pritsche und über mir schwamm ein Gesicht mit starkem Unterkiefer und einem Bart, struppig
wie eine Hecke. Weitere Gesichter erschienen hinter ihm, alle fremd und alle verschwommen, wie unter Wasser.
»Zurück, ihr hässlichen Fratzen. Lasst dem Jungen Platz zum Atmen. Finn Rosskopf, vor dir würde selbst Hel die Flucht ergreifen, also gehst du wohl jetzt am besten raus und holst seinen Vater.«
Das Gesicht mit dem struppigen Bart verfinsterte sich und verschwand. Die Stimme hatte ebenfalls ein Gesicht. Dieses hatte einen sauber gestutzten Bart und freundliche Augen. »Ich bin Illugi, der Godi der Eingeschworenen«, sagte er und klopfte mir beruhigend auf die Schulter. »Dein Vater kommt gleich, Junge. Du bist in Sicherheit.«
Sicherheit. Ein Priester sagt, ich sei in Sicherheit, also muss es wahr sein. Ein kurzes Traumbild, wie etwas, das in einem nächtlichen Gewitter blau-weiß aufblitzt: der Bär, der in einem Schauer von Schnee und splitterndem Holz durchs Dach bricht, brüllend, mit gewundenem Hals, ein riesiger weißer Berg …
»Mein … Vater?«
Die Stimme schien mir nicht zu gehören, aber der Fremde mit den freundlichen Augen, der Illugi hieß, nickte lächelnd. Hinter ihm bewegten sich Männer wie Schatten, ihre Stimmen bald lauter, bald leiser, wie rauschende Wogen.
Mein Vater. Also war er doch gekommen, um mich zu holen. An diesem Gedanken hielt ich fest, während Illugis Gesicht zu einem undeutlichen Fleck verschwamm. Auch die anderen verschwanden hinter ihm wie zerplatzende Blasen, während ich abermals in den dunklen Fluten des Schlafs versank.
Aber der Priester hatte gelogen. Ich war nicht in Sicherheit. Ich würde niemals wieder in Sicherheit sein.
Später, als ich mich aufsetzen und etwas Brühe trinken konnte, hatte sich die Geschichte in ganz Björnshafen herumgesprochen: die Geschichte von Orm, dem Töter des weißen Bären.
Als der weiße Bär – Ruriks Fluch – kam, um sich am Sohn zu rächen – und danach vermutlich am Vater –, war er es, der tapfere Orm, ein Knabe noch, der zum Mann wurde, der ihn ganz allein bekämpfte – neben der geköpften Leiche von Freydis, der Hexe. Einen Tag und eine Nacht hatte er gekämpft, bis er schließlich einen Speer in seinen Kopf und ein Schwert in sein Herz stieß.
Die Leute konnten es gar nicht oft genug hören, sagte mein Vater, als er zu mir kam und sich neben mein Bett kauerte. Er rieb sein graues, stoppeliges Kinn und fuhr sich mit der Hand durch das glatte, einstmals blonde Haar.
Mein Vater, Rurik. Der Mann, der mich bei seinem Bruder Gudleif in Björnshafen in Pflege gegeben hatte. Unter seinem Umhang hatte er mich getragen, als ich noch ein pausbackiger Knirps war. Das war in dem Jahr, als Eirik, genannt Blutaxt, in Jorvik seinen Thron verlor und in der Schlacht bei Stainmore fiel. Ich weiß allerdings nicht, ob dies wirklich Teil meiner Erinnerung ist oder nur ein Flicken auf dem Umhang meines Lebens, angeflickt von Halldis, Gudleifs Frau, die mich von allen Pflegekindern, die kamen und gingen, am meisten liebte, da ich mit ihr verwandt war.
Von ihr lernte ich alles über Schafe und Hühner und über den Anbau von Gemüse und Getreide. Sie füllte die Lücken in meinen Erinnerungen, saß erzählend am Feuer, während die Teppiche, die das Haus unterteilten, im Wind schwangen. Ein donnernder
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