Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
irgendwie geschluckt, als Nachtmahr über ihnen hocken geblieben wäre, der spätestens in der Dunkelheit Angst und Schrecken heraufbeschworen hätte. Dass der Nachtmahr seinen Platz in Mischas Eingeweiden fand, daran hatte Helene nie gedacht. Ja, wahrscheinlich fühlte sie deshalb Schuld. An Maljutkas Tod fühlt sie keine Schuld, aber stimmt das überhaupt? Augenblicklich wird sie unsicher, die letzten Monate vor dem Platzen des Aneurysmas sind ja hinter luftigen, duftigen Vorhängen verborgen. Manchmal schafft es der Wind, sie für Momente an der einen oder anderen Stelle beiseitezuschieben, aber mehr als Zipfel von Ideen, was passiert sein könnte, bekommt sie noch nicht zu fassen, und wenn sie einen davon in der Hand hält, zeigt sich meist irgendetwas, was wie der nächste Zipfel aussieht. Sie öffnet die Hand, um ihn zu schnappen, aber sofort ist wiederum der erste desertiert. Im Ärger darum lässt sie auch den zweiten ziehen. Immer wieder geht das so. Vielleicht bringt die Speckschmelze ja wenigstens erhöhte Beweglichkeit mit sich, die sie dafür gut gebrauchen könnte. Auch der Geist wird geschmeidiger, stellt sie sich vor, obwohl sie auch denkt, dass ein wenig Fett dem Schmierfluss zwischen den Gedanken durchaus zuträglich sein könnte. Auf das richtige Maß kommt es an, wie bei allem. Und so nimmt sie doch noch die zweite Halbscheibe Brot.
Sie sitzt nicht mehr beim Schadhaften . Zwei Tage ihrer Abwesenheit hatten ausgereicht, sie vom Plan zu streichen und eine andere Besatzung um den Tisch zu gruppieren. Zuerst wollte sie ihr Recht einklagen, als sie wiederkam, dann aber erschien es ihr lächerlich, und so sitzt sie nun inmitten einer schweigenden Mümmeltruppe aus alten Männern, die offenbar dabei sind, sich selbst zu vergessen. Anderes scheinen sie sowieso schon vergessen zu haben. Sie kommt gut mit ihnen zurecht, auch wenn sie sich fragt, welchen Grund es gegeben haben mag, sie ausgerechnet diesem Tisch zuzuteilen. Andere Besatzungen sind nach Alter, Geschlecht oder persönlicher Bekanntschaft zusammengestellt worden, bei ihr griff das System nicht. Persönliche Bekanntschaften hat sie hier keine, aber als alters- und geschlechtslos wird sie ja nun auch nicht anzusehen sein. Obwohl die graue Kurzhaarhälfte vermutlich nicht zum Gesicht passt, hat man ihr von jeher ein besonders weibliches Aussehen bescheinigt: breite Hüften, schmale Taille – Birne eben. Im Gesicht fallen die vollen Lippen auf. Matthes, wenn er zwei Gläser Wein getrunken hat, meint, er habe vom ersten Augenblick an zubeißen wollen. Wie sah Maljutka Malysch aus? Im Normalzustand, in dem sie sie kennengelernt hatte, ziemlich eindeutig männlich. Im Ausnahmezustand erreichte sie die Anmutung eines geschminkten, auf weiblich getrimmten Mannes. Ja, es waren Spuren der Gewalt, die verunsicherten. Die Gewalt, das Gesicht überaus sorgfältig zu rasieren und die Poren mit einer Make-up-Schicht zu schließen, damit nicht der Anschein eines nachwachsenden Haares sichtbar wurde. Die Gewalt, sich in klein aussehende Stiefelchen zu zwängen und den Schritt kurz zu halten. (Dabei hatte sie so schöne Beine gehabt.) Die Gewalt, in Brust-raus-Bauch-rein-Pose möglichst leichtfüßig einherzutänzeln und das Haar mit einer gekonnten Bewegung aus dem Gesicht zu streichen. Die Gewalt, die eigene Stimme, erfolglos, etwa um eine Oktave nach oben zu hieven. Leidgetan hatte ihr Maljutka Malysch in dieser Gewaltorgie, der sie sich an jenem Freitag im letzten November unterworfen hatte, und dass sie es einen Tag später aufgegeben hatte, hatte mit Sicherheit Helenes Erleichterung zur Folge gehabt. Maljutka war nicht erleichtert gewesen. Sie hatte am Freitag angestrengt jung ausgesehen, bemalt, wie sie war, mit gefärbtem, zusammengebundenem Haar. Am Samstag war sie zunächst zurückgealtert, mit müdem, faltigem Gesicht hatte sie, beinahe ungeschminkt, in der Krummenseer Kneipe gesessen, bis am Abend beim Altlandsberger Italiener ihr Alter keine Rolle mehr gespielt hatte, Helene hatte es nicht mehr gesehen unter den voller werdenden, sich auf natürliche Weise rötenden Lippen. Maljutka hatte erzählt. Sich einfach fallen lassen und aller Gewalt abgeschworen. Sie war zu sich gekommen, für einen Abend, ehe sie am nächsten Tag schnell und umstandslos verschwunden war, als hätte sie sich dafür entschuldigen müssen.
Ein Mümmelgreis legt seinen Kopf auf ihre Schulter. Erschrocken stellt sie die Teetasse ab, verschluckt sich. Es dauert, bis das
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