0979 - Der Totenhügel
Durch die beiden offenstehenden Fenster des Kinderzimmers drang die Abendluft, ohne die ersehnte Kühlung nach dem schwülen Tag zu bringen.
Die Menschen hatten an diesem Tag unter dem Wetter gelitten. In den großen Städten schlimmer als auf dem Land. Die angekündigten Abendgewitter waren ausgeblieben, nur der Wind hatte ein wenig zugenommen. Er wehte den Geruch der Natur ins Haus. Es roch nach Heu, nach Sommerblumen und auch nach Erde.
Lilian Kline stand am Fenster und schaute in den Garten. Sie sah den alten Zaun, der noch immer so schief stand wie im vorigen Jahr. Ihr Onkel, bei dem sie zu Besuch weilte, hatte versprochen, ihn zu reparieren, doch er war krank geworden und musste noch zwei Wochen im Krankenhaus bleiben.
So war Lilian mit ihrer Tante allein, die sich rührend um den Feriengast kümmerte, wie in den letzten beiden Jahren zuvor auch. Lilian fuhr gern zu ihren Verwandten, denn wo sie mit ihren Eltern lebte, konnten sich Kinder nicht wohl fühlen.
Da war London eng und schmutzig. Da hatte man wenig zu lachen. Da waren die Menschen aggressiv, weil es vielen von ihnen einfach schlecht ging.
Auf dem Land war alles anders. Hier konnten sie durchatmen. Hier brauchte niemand Angst zu haben, wenn er allein nach draußen ging. Hier fand sie auch andere Kinder, mit denen sie spielen konnte, und hier gab es auch den geheimnisvollen Hügel, der ihnen wie ein Besucher aus dem Märchenland vorkam. Die Kinder liebten den Hügel. Er war ihnen fremd und zugleich so vertraut. In ihm verbarg sich ein Geheimnis, und sie hatten sich vorgenommen, dieses Geheimnis während der Ferien zu lüften.
Wenn sie die Erwachsenen darauf ansprachen, schüttelten diese nur den Kopf und lachten sie aus.
Bis auf einige wenige Menschen, die anders darüber dachten, aber auch sie redeten nicht viel darüber, sondern rieten ihnen, sich nicht zu sehr mit dem Hügel zu beschäftigen.
Daran hielten sich die Kinder nicht. Ihre Neugierde war einfach zu groß. Und gerade, weil sie Kinder waren, hatten sie den Eindruck, als würde das Fremde oder Andere, das in dem Hügel steckte, mit ihnen Kontakt aufnehmen wollen.
Lilian stöhnte auf, als sie daran dachte. Der Hügel lockte sie. Sie wollte zu ihm. Sie musste schauen, wie es ihm ging, und sie hatte auch die anderen Kinder gefragt, aber sie wollten nicht kommen. So blieb Lilian an diesem Abend allein.
Sie hörte Schritte. Ohne sich umzudrehen, wusste sie, dass es ihre Tante war, die kam. Ein Klopfen an der Zimmertür. Das tat die Tante immer. Sie war richtig höflich.
Lilian drehte sich um. Betty Byron lächelte sie an. Sie war eine Frau mit braunen Haaren, die lockig auf ihrem Kopf wuchsen. Die Augen hatten dieselbe Farbe, und auch der kleine Leberfleck auf der linken Wange schimmerte so.
Betty lächelte. »Ist es dir langweilig, Kind?«
»Nein«, antwortete Lilian. »Warum?«
»Weil du allein bist. Sonst bist du doch mit deinen Freundinnen zusammen.«
»Sie sind nicht da.«
»Das ist schade.«
»Warum?«
Betty Byron setzte sich auf den schmalen Stuhl. »Weil ich dich auch allein lassen muss. Du weißt, dass ich heute meinen Bridge-Abend habe, und der findet leider bei einer Freundin statt und nicht hier. Ich habe nicht abgesagt, weil ich nicht wusste, dass du heute allein bist. Aber wenn du möchtest, dann…«
»Nein, Tante Betty, du sollst ja gehen. Ich langweile mich schon nicht.«
Die Frau lächelte. »Das glaube ich dir sogar, mein Kind. Du langweilst dich nicht.«
»So ist es.«
»Kein Fernsehen?«
Lilian schüttelte den Kopf.
»Kein Computer?«
»Kein Computer, Tante.«
»Was machst du dann?«
In Lilians Augen trat ein schwärmerischer Glanz. »Träumen«, flüsterte sie. »Ich werde bestimmt wunderbar träumen. Dazu brauche ich nicht einmal zu schlafen.«
»Dann träumst du so vor dich hin…?«
Lilian strich mit der linken Hand über ihren Kopf. »Ja, ich träume von vielen schönen Dingen. Ich denke dann immer, dass ich wie Alice im Wunderland werde. Der Garten hier ist plötzlich verwunschen. Ich sehe Tiere, die sprechen können, und ich gehe dann auf einem Regenbogen spazieren und sehe die Welt von oben. Da kann ich alles genau erkennen, obwohl ich so hoch oben bin.«
Betty Byron lachte. Sie konnte nicht anders. Sie musste ihre Nichte einfach in den Arm nehmen und fest an sich drücken. »Du bist so wunderbar, meine Kleine. Einfach herrlich. Anders als die Kinder, die ich kenne. Noch wie früher.«
»Wie meinst du das?«
»So
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