Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du zahlst den Preis fuer mein Leben

Du zahlst den Preis fuer mein Leben

Titel: Du zahlst den Preis fuer mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Philipps
Vom Netzwerk:
Manchmal begleiteten Kali und Nica ihn. Die Bilder von damals verfolgen Nica bis heute in ihren Träumen.
    Überall waren Menschen unterwegs auf der Suche nach Verwandten und Freunden. Der Strand war übersät mit Trümmern. Dazwischen ragten Arme und Beine von Toten hervor, grau von Schlamm und Schlick. Helfer türmten sie zu Bergen auf. Später übernahmen Kräne mit riesigen Schaufeln diese Arbeit.
    Jedes Mal, wenn ein neuer Toter am Strand angeschwemmt wurde, kamen die Menschen zusammen. Sie betrachteten den Leichnam, hofften, dass es der von ihnen gesuchte Verwandte war, und fürchteten gleichzeitig die Gewissheit, dass er tot war. Helfer vom Roten Kreuz brachten Trinkwasser und Lebensmittel und bauten Zelte auf. Nica zog in eines mit Kalis Familie ein. Man hielt sie für eine Tochter der Familie.
    Drei Wochen später machte sich Kalis Vater mit Nica und Kali auf den Weg nach Banda Aceh. Die Stadt sah aus wie nach einem Bombeneinschlag. Fast alle Häuser waren zerstört. Im Hafenbecken schwammen neben Holzbrettern halb versunkene Fischerboote herum. Lediglich die große weiße Moschee stand noch inmitten der Trümmer. Ein Zeichen Allahs, sagten die Leute.
    Überall liefen Menschen herum, die Nica Angst machten, weil sie das Gesicht durch einen weißen Mundschutz verdeckt hatten. Nur ihre Augen waren zu sehen. Durch die vielen immer noch zwischen den Trümmern liegenden Leichen nahm die Gefahr von Seuchen zu.
    Auf große Stellwände konnte man Suchanzeigen heften. Auch Kalis Vater schrieb einen Zettel: Nica Kaiser, sechs Jahre, aus Berlin, sucht ihre Eltern: Sonia Kaiser und Bernd Kaiser. Sieben Tage lang zogen sie durch die Zelte und Krankenlager von Banda Aceh. Sie studierten die großen Stelltafeln mit den Vermisstenanzeigen und fragten und fragten. Nachts schliefen sie wie viele andere in der großen Moschee.
    Sie fanden die Mutter schließlich in einem Krankenhaus, wo sie mit einem gebrochenen Bein und einer schweren Kopfverletzung lag. »Nica?«, fragte sie ungläubig. In ihrer indonesischen Verkleidung mit dem Jilbab, der auch den Hals bedeckte, sah Nica fremd aus. Aber sie lebte und wurde von Kalis Familie wie eine Tochter versorgt, bis die Mutter das Krankenhaus verlassen konnte.
    Nicas Vater wurde nie gefunden, er ist einer der 37000 vermissten Menschen. Das Boot, mit dem er seinen Tauchkurs machte, wurde von der Welle verschluckt. Niemand überlebte. Nicas Vater liegt wahrscheinlich unten im Meer oder wurde unerkannt ans Ufer geschwemmt und liegt in einem der beiden Massengräber.
    »Nie werde ich euch das vergessen.« So lauteten die Abschiedsworte der Mutter an Rianis Familie, als sie Ende Januar 2005 zurück nach Berlin fliegen konnten. Seither kommen Nica und ihre Mutter jedes Jahr zu Weihnachten nach Banda Aceh zurück, legen Blumen an den Strand und schreiben in den Sand das Datum, an dem die große Welle so viele Menschen in den Tod riss: 26.12.2004.
    * * *

2
    »Ka-li, Ka-li!« Die begeisterten Rufe fliegen aus der Aula zu Nica herüber. Dort drinnen wird jetzt Kali zum Sieger des ersten Tages gekürt. Er hätte sicher auch mit einem anderen Text gewonnen. Er hätte gewonnen, einfach weil er Kali ist und die Stimmen der Mädchen vor dem ersten Wort in der Tasche hat. »Ka-li! Ka-li!« Wie gerne hätte sie jetzt dort unter ihren Freundinnen gesessen und ihm zugejubelt. Noch viel lieber hätte sie selber auf der Bühne gestanden.
    Begleitet von den »Kali-Kali«-Rufen, die langsam leiser werden, macht sich Nica auf den Weg nach Hause. Auf Party hat sie keine Lust. Das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter wohnt, liegt in einer ruhigen Nebenstraße. Es ist eine alte Villa aus den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts, die die Eltern mit viel Liebe umgebaut und neu eingerichtet haben.
    Nica liebt vor allem den kleinen Park hinter dem Haus. Hier wohnen die Erinnerungen an glückliche Stunden mit ihrem Vater. Hier hat sie mit ihm Fußball gespielt, hier fand auch die große Party zu ihrem sechsten Geburtstag statt, die letzte, die ihr Vater organisiert hat. Mit einem Clown und jeder Menge Wasserspielen.
    Sie geht über die neu gepflasterte Auffahrt um das Haus herum in den Garten. Der Rasen ist frisch gemäht, es duftet nach Gras. Nicas Weg führt wie jeden Tag in den hinteren Teil des Parks, dorthin wo der große Kastanienbaum steht. Er ist mehr als 200 Jahre alt. Unter dem Baum liegt ein großer Findling mit dem Namen des Vaters darauf. Drumherum hat Nica zusammen mit der Mutter Vergissmeinnicht

Weitere Kostenlose Bücher