Du zahlst den Preis fuer mein Leben
1
»Thea hat ’ne Dauerwelle, die sich dauernd wellt.
Thea hasst die dauernde Welle, sie hätt das Haar lieber glatt.
Doch ihr Freund liebt die Welle, er hat Theas Jammern satt ...«
Gähnend schaut Nica auf die Uhr über der Eingangstür der Aula, wo der große Zeiger offenbar ebenfalls aus Langeweile kurz vor dem Einschlafen steht. Noch zwanzig Minuten bis zur Pause.
Vorne auf der Bühne zeigt Lukas das, was er für den besten Poetry-Slam-Beitrag ever hält. Dabei ist er einfach nur grottenschlecht, so wie die Mehrheit der Möchtegern-Dichter, die sich heute dem Publikum gestellt haben, um die Schulmeisterschaft zu gewinnen.
»Alles Kacke!«, murmelt Nica und muss schon wieder gähnen.
»Das ist nicht fair. Nur weil du nicht mitmachst, sind doch nicht alle anderen Idioten!«, schimpft Emma, die zwar Nicas beste Freundin und meistens ihrer Meinung, allerdings seit Kurzem auch in Lukas verliebt ist und daher seinen Beitrag begeistert beklatscht. »Das Thema ist wirklich Kacke! Wellen! Was soll man da denn schreiben? Aber was über Dauerwellen zu machen ist doch witzig!«
»Wenn man’s kann«, murmelt Nica. Ein echter Slammer kann aus jedem Thema was machen, leider ist Lukas zwar ein netter Typ, aber kein guter Slammer. Und daran änderte auch die Verliebtheit ihrer besten Freundin nichts.
In den letzten beiden Jahren hat Nica den Wettbewerb gewonnen, durfte ihre Schule bei der Stadtausscheidung vertreten, die sie auch souverän gewonnen hat. Diesmal hat sie ihre Teilnahme zurückgezogen. Das Thema in diesem Jahr lautet: »Wellen«. Wasserwellen, Dauerwellen, Hitzewellen, Hauptsache Wellen.
Aber beim Gedanken an Wellen wird ihr übel. Sie hasst Wellen.
Der große Zeiger der Uhr wandert im Zeitlupentempo weiter. Noch zwei Teilnehmer, dann ist es endlich vorbei. Für heute. Es haben sich so viele Schüler angemeldet, dass der Poetry-Slam-Wettbewerb über drei Tage geht. Morgen treten die besten acht erneut gegeneinander an mit einem anderen Gedicht zum selben Thema. Den Schulsieger machen dann in der Endausscheidung am Freitagabend in der alten Brauerei die besten vier untereinander aus.
Und für jeden Termin besteht Anwesenheitspflicht. »Es ist eine Schulveranstaltung!«, hat Herr Kreuzer extra betont. Nica lehnt sich seufzend zurück, holt ihr Handy heraus und loggt sich bei Facebook ein.
»Und nun kommen wir zum allerletzten Beitrag für heute. Kali aus der 9a.«
Begeistertes Kreischen vor allem bei den Mädchen. »Kali! Kali!« Sie sind verrückt nach Kali. Kali mit seinen schwarzen geheimnisvollen Augen und dem frechen Lachen im Gesicht.
Mit klopfendem Herzen schaut Nica zur Bühne, wo Kali das Mikrofon zurechtrückt. Was will er dort? Kali hatte bei der Bekanntgabe des Themas genau wie sie nur das Gesicht verzogen und abgewinkt. Mit Wellen will auch er nichts mehr zu tun haben. Nica hat keine Ahnung, warum er nun auf einmal seine Meinung geändert hat. Sie weiß nur, dass vor zwei Wochen etwas geschehen ist, dass nicht nur Kalis Meinung, sondern den ganzen Kali verändert hat.
Kali räuspert sich und fragt mit einem Grinsen auf gewohnt lockere Weise ins Publikum: »Hey, Leute! Was geht?«
»Nichts geht! Alles geht!«, schreit der ganze Saal begeistert.
Kali räuspert sich wieder.
Nica spürt, wie nervös er ist.
»Die Welle. Teil 1
Du stehst am Strand und schaust aufs Meer,
Fürchte dich nicht vor der Welle!
Das Meer ist blau
Die Gischt leicht grau.
Fürchte dich nicht vor der Welle!«
Kalis Stimme tönt durch die Aula. Alle schauen erwartungsvoll zu ihm hoch. Nur Nica, die schon bei den ersten Worten zusammengezuckt ist, starrt ungläubig nach vorne. Je länger Kali spricht, desto bleicher wird sie.
»Und dann kommt die Welle und du fürchtest dich nicht.
Alles ruft und rennt und schreit und schreit und ... stolpert,
rennt weiter und ruft und schreit und schreit und ... stürzt.
Die Welle kommt, aber du fürchtest dich nicht.
Du sitzt auf dem Baum und schaust hinunter.
Fürchte dich nicht vor der Welle!
Du sitzt auf dem Baum ganz munter
Darunter
Das schlammig-graue gurgelnde menschenmordende Meer.
Von unten fliegt stinkende Gischt daher.
Von oben kotzt der dicke Mann, der arme Tropf,
das Frühstücksrührei auf deinen Kopf.
Fürchte dich nicht vor der Welle!
Der Tropf schreit auf und schreit und schreit
Und ... stürzt ... mit dem Kopf voran ins Meer,
das ihn hungrig verspeist.
Du aber sitzt auf dem Baum, schaust aufs Meer und fürchtest dich nicht vor der Welle.
Du
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