Du zahlst den Preis fuer mein Leben
nach. »Bis heute Abend!«, rief er und warf ihr einen Kuss zu.
Das war das Letzte, was sie von ihm sah.
Am Strand hatten Swea und Peer, Nicas neue Freunde, bereits mit der Burganlage begonnen. Nica wurde mit ihrem Eimer zum Wasserholen geschickt. Aber das Meer war nicht da. Sie sah sich suchend um.
»Das Meer zieht sich zurück«, sagte ein Mann neben ihr. »Merkwürdig. Hab ich hier noch nie gesehen.«
Nica brauchte Wasser und machte sich auf die Suche nach dem Meer. Sie war schon ein ganzes Stück gegangen, als ihre Mutter angelaufen kam, sie am Arm packte und schrie: »Lauf, Nica. Die Welle kommt!«
Sie zerrte Nica fort, und sie rannten und rannten.
»Schneller, Nica! Schneller! Die Welle kommt!«
Nica rannte, obwohl sie nicht so genau wusste, warum. Sie liebte die kleinen Wellen und kreischte immer vor Vergnügen, wenn sie von ihnen umgestoßen wurde. »Unsere Tochter ist mit Schwimmflossen geboren«, hatte der Vater immer gesagt.
Neben ihnen rannten andere Menschen, vorbei an verlassenen Sandburgen und einsamen Strandliegen. Einige Touristen hatten den Ernst der Lage noch nicht begriffen. Sie liefen zum Meer, um die Welle zu fotografieren. Ein junger Mann rief seiner Freundin zu: »Wie geil ist das denn!« Hand in Hand rannten sie auf die Welle zu. Sie starben wie die anderen auch, weil sie in die falsche Richtung liefen.
Die meisten aber rannten landeinwärts um ihr Leben, kletterten auf Hügel, auf Gebäude oder in Bäume.
»Schneller, Nica! Schneller!«
Sie rannten einen Hügel hoch, hoch und immer höher, aber die Welle erreichte sie doch. Nica verlor die Hand der Mutter, schluckte Wasser, hustete und strampelte. Dann packte jemand ihre Hand, zog sie nach oben, sie schnappte nach Luft und fand sich auf einem Baum wieder, einen Meter über dem gurgelnden Wasser. Sie klammerte sich an den Ast, wartete zusammen mit den anderen, die sich auf den Baum gerettet hatten. Der Mann neben ihr verlor bei dem Versuch, einen weiteren Menschen aus den Fluten zu retten, das Gleichgewicht, fiel kopfüber ins Wasser, wedelte noch eine Weile mit den Armen und verschwand dann unter der Wasseroberfläche. Kleine Blasen stiegen an der Stelle hoch, wo er verschwunden war.
Sie warteten, bis das Wasser ins Meer zurückgelaufen war. Ein Junge, nur wenig älter als sie, half ihr vom Baum. Sie lief hinter ihm her, weil sie nicht wusste, wohin sie sonst gehen sollte. Die Ferienbungalows waren ein einziger Trümmerhaufen, zwischen Brettern und Badelaken trieben schlammverschmierte Körper.
»Meine Mutter …«, sagte Nica.
Der Junge, der Kali hieß, zog Nica weiter.
Auch das Haus des Jungen und seiner Familie war durch die Riesenwelle zerstört worden. Zwischen den eingestürzten Mauern saß die Mutter mit seiner Schwester Riani. Die Mutter umarmte Kali und Nica, machte Feuer aus Brettern und kochte Reis, den sie in den Trümmern noch gefunden hatten.
Am dritten Tag kam der Vater von Kali zurück. Er war sehr blass, hatte einen gebrochenen Arm und eine dicke Beule am Kopf. Das Fischerboot von Kalis Vater war gekentert, seine drei Freunde ertrunken. Aber er lebte und das war das Einzige, was in diesen Tagen wichtig war.
Am Ende zählte man 283000 Tote, 106000 Tote allein in der Provinz Aceh. 694000 Menschen waren obdachlos geworden, darunter Kali und seine Familie. Mit einer Stärke von 8,9 war es das gewaltigste Seebeben der Menschheit, so stand es später in den Zeitungen, ausgelöst als sich südlich von Sumatra die indisch-australische Platte mit einem großen Ruck unter die eurasische Platte schob. Der nachfolgende Tsunami hatte nicht nur Sumatra getroffen, sondern auch so weit entfernte Inseln wie Sri Lanka und die Malediven.
Vier Wochen lebte Nica bei Kalis Familie, ohne zu wissen, was aus ihren Eltern geworden war. Sie sagte »Ibu« zu seiner Mutter und »Bapak« zu seinem Vater. Kali war ihr großer Bruder und Riani, die wie sie sechs Jahre alt war, ihre Zwillingsschwester. Sie trug Rianis lange Hosen, die langärmeligen Blusen und ihren Jilbab, das Kopftuch, und war von den anderen Dorfkindern nur durch ihre blauen Augen zu unterscheiden. Sie aß drei Mal am Tag Reis mit Huhn und jeder Menge scharfer Gewürze, von denen sie Bauchweh bekam, bis sich ihr Magen daran gewöhnte, so wie sie sich an das Schlafen unter freiem Himmel gewöhnte und an die indonesische Sprache, die ihr von Tag zu Tag vertrauter wurde.
Jeden Tag ging Kalis Vater los und suchte nach Nicas Eltern, aber niemand wusste etwas von ihnen.
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