Dunkle Reise
noch nicht ganz vorbei, aber am vergangenen Abend hatte ich mir die nächste Anhöhe eingeprägt, auf die die Straße zugelaufen war, und wenn wir sie erreichten, würde es hell sein. So konnten wir den Tagesmarsch beginnen, bevor die Straße noch deutlich erkennbar war; natürlich würde Georghe es genauso einrichten können.
Der Regen machte es nicht leichter. Wir passierten einen Schichtenkopf, verwitterte Felsen, die den dünnen Boden eines Hanges durchbrachen. In einer Nische zwischen zwei geborstenen Felspfeilern saß eine Eule, ein kleines braunes Tier, das traurig und nass aussah. Es war gut, dachte ich, dass Barras keine Eulen verwenden konnte, um uns nachzuspionieren. Wir waren diejenigen mit dieser Fähigkeit. Nicht, dass es uns in unserer gegenwärtigen Lage nützte…
Ich beobachtete die Eule, die im kalten, nassen Morgengrauen zurückstarrte und mich als bedeutungslos aus ihrer Aufmerksamkeit entließ. Das Licht nahm allmählich zu, und dann fiel mir etwas ein, was mich beinahe zum Stillstand gebracht hätte. Das Blut unter meiner Haut, das so träge geflossen war wie das einer Eidechse im Winter, wurde auf einmal wieder schnell durch die Adern gepumpt.
Ich fiel zurück, um neben Silvus zu gehen. Er nickte mir zu, aber ich hatte keine Zeit für Umgangsformen. »Du sagtest mir einmal, dass ein Mann zu Fuß im weglosen Gelände auf lange Sicht beinahe so schnell vorankommen könne wie ein Reiter«, sagte ich. Es hörte sich fast wie eine Beschuldigung an.
Er blickte nicht auf. »Ja, das ist zu machen, wenn er in guter Verfassung ist. Natürlich kann er mit dem Schritt eines Pferdes nicht mithalten. Er schafft den Ausgleich, indem er jede wache Stunde und mehr marschiert, auch während der Stunden, die ein Pferd braucht, um gefüttert und gepflegt zu werden und auszuruhen. Das können wir nicht. Wir können im Dunkeln nicht marschieren, weil wir sonst Gefahr laufen, von der Straße abzukommen.«
»Weil wir sie nicht sehen können.«
»Ja.« Ich atmete ein und aus. »Also werden wir gegen Georghe keinen Vorsprung herausholen, weil wir nicht lang genug marschieren können.«
»Ja. Was?« Er hatte etwas in meinem Verhalten bemerkt. Plötzlich, wie von ungefähr, konnte ich mich bei ihm entschuldigen. Vielleicht lag es daran, dass ich dachte, es könnte eine Zukunft und eine Gelegenheit zu sühnen geben.
»Es tut mir Leid«, sagte ich. »Es war die Wut. Ich wollte es nicht. Grames hätte nicht sterben sollen.«
Er hob den Kopf und sah mich an. »Du entschuldigst dich bei mir? Will, Junge, der einzige Unterschied zwischen uns ist der, dass mir dieser Trick nicht einfiel. Wenn ich in jenen Augenblicken Grames’ Hals in die Finger bekommen hätte…« Sein Gesicht verschloss sich. »Ich würde das Dunkel gebraucht haben, die Götter mögen mir helfen. Aber dank Ihnen dachte ich nicht daran, und wahrscheinlich hätte ich es ohnedies nicht machen können. Meine Kraft ist nicht annähernd so stark wie Ariennes.«
Ich nickte. Die nächste Frage musste sehr vorsichtig gestellt werden. »Du würdest niemals selbst vom Dunkel Gebrauch machen«, sagte ich. »Ich glaube nicht, dass du es in dir hast. Aber es könnte Zeiten geben, in denen du dein Talent gebrauchen würdest.«
Die Falten um seine Augen vertieften sich, und zehn Schritte lang beobachtete er den Hang neben uns. »Ja«, sagte er endlich, »ich nehme an, es gibt höhere Erwägungen der Ehre jenseits des strikten Buchstabens eines Gelübdes. Früher hätte ich es nicht gedacht; damals war ich überzeugt, dass der Gebrauch des Talents und das Dunkel untrennbar miteinander verbunden seien. Also schwur ich meinem Vater, dass ich es niemals gebrauchen würde. Aber ich werde nicht zulassen, dass mein Knappe verhungert oder ermordet wird, wenn der Gebrauch meiner Gabe es als letztes Mittel verhindern würde.« Er schnaufte. »Da hast du’s. Die sophistische Weisheit des Silvus de Castro. Du bist mein Knappe. Es wird von mir erwartet, dass ich für deine Erziehung zu Ritterlichkeit und Höflichkeit verantwortlich bin. Betrachte dies als einen Teil des Prozesses. Aber ich schulde dir ein Dutzend Male mein Leben. Es gibt keine Ursache, dich bei mir zu entschuldigen.«
»Ich weiß. Es ist bloß ein Aufwärmen. Ich weiß, bei wem ich mich entschuldigen muss.«
Er blickte wieder zu Boden. »Dann geh und tu’s. Ich nehme das Pferd. Es ist beinahe Tag.«
»Danke.«
Ich beschleunigte meine Schritte. Arienne war ein Stück voraus, und ich bezweifelte, dass
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