Dunkle Schwinge Bd. 2 - Der dunkle Pfad
respektvoller Haltung.
Als er sich dem Zor näherte, drehte der sich um. Er stutzte, als er den menschlichen Kopf auf dem Zor-Leib sah.
»Marc?«
»Es ist schon lange her, Sergei«, sagte der Marc Hudson- Zor und setzte jenes markante schiefe Grinsen auf, an das Sergei sich erinnerte. »Sie sehen gut aus.«
»Sie auch, und erst recht für jemanden, der schon so lange tot ist wie Sie.«
»Wie lange ist es jetzt her?«
»Dreißig Jahre«, antwortete Sergei und wandte den Blick ab. »Ich hielt eine Rede bei Ihrer Beerdigung. Sie haben die meisten von uns überlebt – Bert, Uwe, sogar Alyne.«
»Alyne.« Ein Anflug von Zuneigung huschte durch die Flügel des Hudson-Zor. Sergei bekam eine Gänsehaut, als er hörte, wie Marc den Namen seiner verstorbenen Frau aussprach.
»Wieso bin ich hier, Marc?«
»Das ist esLis Wille. Oder möchten Sie die wahre Antwort hören?« Wieder lächelte der Hudson-Zor.
»Die wahre Antwort.«
»Die wahre Antwort lautet: Das Vorhergesehene wird nun beginnen. Der Flug wurde gewählt, die Entscheidung ist gefallen.«
»Muss ich dort hinauf?«, fragte Sergei und deutete auf die Gefahrvolle Stiege hinter dem Hudson-Zor.
»Das steht einem anderen bevor«, erwiderte der. »Es ist ein shNa’es’ri für diese Person, nicht für Sie.«
»Was will esLi dann von mir?«
»Was glauben Sie denn?«
»Ich glaube … dass die Last des Schwerts groß ist. Ich trage es, seit der Admiral starb. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese aLi’e’er’e vollbringen kann, mein alter Freund. Ich habe den Flug gewählt, doch weiß ich nicht, ob meine Flügel mich auf diesem Weg tragen können.«
»Sie haben Sie bis hierher getragen«, gab der Hudson-Zor zu bedenken.
Sergei folgte der Geste seines Gegenübers und sah seine eigenen Flügel, wie sie die Pose des Umhüllenden Schutzes für esLi einnahmen.
»enGa’e’esLi«, sagte Sergei zu sich, vielleicht aber auch zum Hudson-Zor, und benannte damit die Flügelhaltung.
»esLiHeYar, alter Freund«, gab der Hudson-Zor zurück, dann schob sich der schillernden Nebel des Tals der verlorenen Seelen zwischen die beiden, verdeckte die Eiswand, die Gefahrvolle Stiege und schließlich auch den Hudson-Zor.
Der Captain der Cincinnatus, eines Schiffs Seiner Imperialen Majestät, hatte sich nach der Begrüßung seiner erlesenen Passagiere aus Takt und Höflichkeit zurückgezogen, damit Sergei Torrijos, der Gyaryu ’har des Hohen Nestes, und Admiral Horace Tolliver von der Imperialen Navy in Ruhe in der Messe des Captains ihr Frühstück zu sich nehmen konnten.
Sergei schälte sorgfältig eine Orange, während Horace Tolliver das Essen auf seinem Teller hin und her schob.
»Wieder eine schlaflose Nacht?«, fragte Sergei.
Tolliver rieb sich den Nacken. »Ich werde es nie begreifen, wie man an Bord dieser Schiffe auch nur ein Auge zumachen kann. Daran kann ich mich einfach nicht gewöhnen.« Mit militärischer Präzision legte er seine Gabel zurück auf den Tisch. »Was ist mit Ihnen? Sie sind doch weit weg von Ihrem Garten in esYen.«
»Geschlafen wie ein Murmeltier«, antwortete Sergei, obwohl die Bilder von der Ebene der Schmach sich immer noch in seinem Kopf hielten. »Es wurde Zeit, dass Sie aufwachen.«
»Mir war nicht bewusst, dass Sie sich für meinen Schlafrhythmus interessieren, zumal Sie sich bislang alle Mühe gegeben haben, mir aus dem Weg zu gehen.«
Der ältere Mann rollte seinen Stuhl zu einem Beistelltisch und drehte sich um. Sein faltiges Gesicht ließ erkennen, dass er sich amüsierte. »Keineswegs, Horace, keineswegs. Seit ich an Bord kam, war ich darauf aus, Sie in die Ecke zu treiben, aber man hat mich die ganze Zeit über auf Trab gehalten.«
»Na gut.« Horace Tolliver stand auf und stellte sich vor einen Spiegel, um den Sitz seiner Uniform zu korrigieren. »Was verschafft mir die Ehre, vom Gyaryu’har besucht zu werden?«
»Neugier. Und Freundschaft. Sie wissen schon … sich gegenseitig die Hand zu reichen und so weiter. Vergessen Sie nicht, dass ich selbst auch mal Offizier der Navy Seiner Majestät war … auch wenn es lange her ist.«
»Sehr lange. Vor fünfundachtzig Jahren war es eine ganz andere Navy.«
Der alte Mann sah auf; der Schmerz der Erinnerung zeigte sich in seinem Gesicht. »So lange ist es schon her? Fünfundachtzig Jahre? Da waren Sie noch nicht mal auf der Welt.«
»Sie schweifen ab.« Horace wirkte verwirrt, als er sich vom Spiegel abwandte und wieder Platz nahm. »Also gut, dann verraten Sie mir, wie
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