Die Vermessung der Lust (German Edition)
Das Experiment
Es riecht nach Mann. Sofort schnüffeln sich fünf weibliche Nasen durch eine schier undurchdringliche Wolke aus fünf verschiedenen Parfüms, die um sie herum liegt wie ein Kokon.
Da! Tatsächlich! Ein Mann! Jetzt bloß nichts anmerken lassen, wenn fünf Augenpaare mit dem Scanvorgang beginnen. Zuerst das Gesicht. Männer haben weder Brüste noch hübsche nackte Beine, also bleibt nur das Gesicht. Oder der Hintern, wenn er sichtbar wäre. Ist er hier nicht. Aber nicht schlecht, was man so sieht... Langsam abwärts über die breiten Schultern, über die geschwellte Brust, den erfreulich flachen Bauch bis... nein. Das wäre entwürdigend. Obwohl... Da scheint sich etwas zu wölben? Könnte aber auch eine optische Täuschung sein, ein paar Falten im Hosenstoff. Jetzt wendet sich der Mann nach rechts auf einen freien Tisch zu. Sein Hintern wird sichtbar und entsprechend abgescannt. Wow!
Madeleine Vulpius seufzte. Es war immer das gleiche. Erhöhter Adrenalinausstoß, sobald ein mit Hoden ausgestattetes, halbwegs attraktives Lebewesen in der Nähe war, Endorphine, die sogenannten Glückshormone wurden ausgeschüttet, die Schweißproduktion nahm zu. Obwohl fünf völlig unterschiedliche Frauen mit Elektroden auf der Gesichts- und Kopfhaut an diesem Experiment teilnahmen, glichen sich die Ergebnisse frappierend.
Zwischen Clementine (37, moppelig und glücklich geschieden) und Meret (24, Studentin mit Traummaßen, unverständlicherweise solo) gab es nur graduelle Unterschiede. Meret hatte zuerst auf den Bauch geschaut, Clementine ins Gesicht. Bei Anett (46, verheiratet, ihr Mann hatte sie hergefahren, ein etwas langweiliger Typ) war das Adrenalin abrupt in die Höhe geschossen, während es sich bei Sylvie (32, ledig, angeblich mit einem Hang zum eigenen Geschlecht) ganz allmählich, aber nicht dramatisch über Normalniveau eingepegelt hatte.
Ungerührt war keine der fünf Damen geblieben, am ehesten noch Margie (18 und Bankazubi, die ihren Freund »mein derzeitiges Betthasi« nannte). Hasi schien seine Sache gut zu machen, Margie hatte sich einigermaßen im Griff.
» Das Elektrookulogramm wäre jetzt fertig « , sagte Dora, die Doktorandin. Madeleine nickte und stand auf. »So, meine Damen, vielen Dank, das wärs für heute. Lars wird sie nun entkabeln.«
Lars. Das war er. 27, groß und schlank, schwarzhaarig, Grübchen im Gesicht. Ihr zweiter Doktorand neben Dora, ein Mensch, der so definitiv nach Mann roch, dass man es auch ohne Nase hätte feststellen können. Er ging jetzt von einer zur anderen und befreite sie von den Elektroden, die nicht mehr messen konnten, wie die Nähe von Lars die Hormone der Damen vollends durcheinanderwirbelte. Und dieses Gekicher. Dieses blödsinnige Gekicher. Madeleine zwang sich zur Ordnung. Das hier war ein Experiment, das hier war nüchterne, eiskalte Wissenschaft.
Sie hatte lange dafür kämpfen müssen, private Sponsorengelder akquiriert, auf langweiligen Kongressen um die Anerkennung ihrer zumeist männlichen Kollegen gebuhlt. Die waren von Anfang an skeptisch gewesen. War das wirklich noch wissenschaftlich? Die Fragestellung »Warum verfallen Frauen Männern?« War doch eindeutig! Weil es die Natur so eingerichtet hatte. Es ging um Paarung, um sexuelle Attraktion, damit beide Seiten nicht auf die dumme Idee kämen, die Fortpflanzung zugunsten unsinniger Freizeitbeschäftigungen zu vernachlässigen. Durch Shoppen oder Fußballgucken würde sich die Menschheit nicht reproduzieren. Und wenn doch – es war nicht erhebend daran zu denken, eine Spezies aus dauershoppenden Fußballguckern zu etablieren.
Irgendwann hatte es Madeleine geschafft. Sie, Mitte Vierzig, eine wohlbestallte Professorin der Psychologie an einer durchschnittlichen Universität, mit durchschnittlichen Studierenden. Eine gepflegte Frau, die ihr Äußeres nicht anders als »durchschnittlich« nennen würde, eine Wissenschaftlerin mit einem Projekt, bei dessen Erwähnung jedermann schmunzelte und dachte: Die hat vielleicht Probleme.
Dabei war die Fragestellung nicht nur rein wissenschaftlich. Es interessierte Madeleine persönlich, warum Frauen Männern verfielen. Und Männern Frauen – gut, auch das. Aber das sollte jemand anderes herausfinden.
Madeleine war noch nie einem Mann verfallen. Sie hatte Konrad geheiratet, als sie 20 war, einen Mann, der ihr Vater hätte sein können, damals so alt schon wie sie jetzt, ein Mann, der auch gewissermaßen ihr Vater wurde, von der gelegentlichen, seit
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