Dunkle Sehnsucht des Verlangens
schloss die Tür sorgfältig hinter sich. Dann ging
er in die Richtung des donnernden Applauses.
Die Band spielte die
Anfangstakte ihres ersten Liedes. Dann hörte Julian die Stimme der Sängerin.
Die faszinierenden, mystischen Klänge erfüllten den Raum, und Julian konnte
die Töne tatsächlich vor seinen Augen schimmern sehen wie goldene und silberne
Sterne. Schockiert blieb er stehen und starrte auf die verschlissene Tapete im
Gang. Sie hatte rote Ränder. Seit über achthundert Jahren hatte Julian keine
Farben mehr gesehen. Es war das Schicksal der karpatianischen Männer, nach
einiger Zeit die Fähigkeit zu verlieren, Farben zu sehen oder Gefühle zu
empfinden. Sie waren dazu verdammt, einsam in einer grauen, freudlosen Welt zu
leben und gegen ihre Raubtierinstinkte anzukämpfen, wenn sie nicht die ihnen bestimmte
Gefährtin fanden, deren Güte und Liebe die Finsternis aus ihrer Seele
vertreiben konnte. Erst dann konnte ein Karpatianer wieder Farben sehen und
starke Gefühle empfinden. Doch es gab nur sehr wenige karpatianische Frauen,
und sicherlich würde es gerade einem Mann wie Julian nicht vergönnt sein, eine
Gefährtin zu finden. Dennoch klopfte sein Herz schneller.
Er spürte Aufregung. Hoffnung.
Gefühle. Echte Gefühle. Die strahlenden Farben blendeten ihn. Der Klang der
wunderbaren Stimme schien seinen Körper zu durchdringen und etwas in ihm zu
berühren, das er seit Jahrhunderten vergessen geglaubt hatte. In ihm erwachte
ein übermächtiges Begehren. Julian stand einfach da und regte sich nicht. Die
Farben, die Empfindungen, das körperliche Verlangen konnten nur eines
bedeuten: Die Sängerin, der diese faszinierende Stimme gehörte, war seine
Gefährtin!
Es war unmöglich, schier
unvorstellbar! Karpatianische Männer verbrachten manchmal die Ewigkeit damit,
die eine Frau zu suchen, die ihnen als Gefährtin bestimmt war. Die Karpatianer
verfügten über ausgeprägte Raubtierinstinkte. Sie waren klug, schnell und
äußerst gefährlich. Zwar wuchsen sie fröhlich auf und erlebten so manche
aufregenden Abenteuer, doch dann war das glückliche Leben irgendwann vorbei.
Sie verloren die Fähigkeit, Farben zu sehen und Gefühle zu empfinden. Dann
blieb ihnen nichts als die Einsamkeit.
Julians Leben war besonders
unerträglich gewesen, denn er musste sich sogar von Aidan fern halten, seinem
Zwillingsbruder, dessen Nähe die tristen Jahrhunderte vielleicht etwas
erträglicher gemacht hätte. Doch Julian wusste, dass Aidan durch die
Blutsverwandtschaft zu ihm in großer Gefahr schwebte, denn der Vampir hatte ihm
gedroht. Also war Julian geflohen. Nie hatte er einem anderen die schreckliche
Wahrheit anvertraut - nicht einmal seinem Bruder. Julian hatte ehrenhaft
gehandelt, denn schließlich war die Ehre das Einzige, was ihm noch geblieben
war.
Und nun stand er regungslos in
dem engen Gang und konnte es nicht fassen. Sollte seine Gefährtin tatsächlich
in der Nähe sein? Zwar sah er die leuchtenden Farben und wurde von den tiefen
Empfindungen überwältigt, er konnte jedoch nicht glauben, dass ausgerechnet ihm
dieses Glück vergönnt sein sollte.
Viele karpatianische Männer
verwandelten sich nach Jahrhunderten ohne Hoffnung in Vampire. Da sie keine
Gefühle mehr hatten, erschien ihnen nur die Macht, zu jagen und zu töten, noch
erstrebenswert. Andere wiederum beschlossen, weder Menschen noch Karpatianer
in Gefahr zu bringen, und setzten ihrem Leben ein Ende, indem sie den
Sonnenaufgang erwarteten. Das Tageslicht tötete sie, denn sie waren dazu
geschaffen, in der Dunkelheit zu leben. Nur wenige fanden ihre Gefährtin, die
endlich Licht in ihre Finsternis brachte. Nach beinahe tausend Jahren der
Trostlosigkeit hatte Julian nun beschlossen, sein Leben zu beenden, ehe seine
dunkle Seite die Oberhand gewann. Er konnte nicht glauben, dass es ihm
ausgerechnet jetzt bestimmt war, seine Gefährtin zu finden. Und doch musste es
wahr sein, denn die Farben und Empfindungen bewiesen es eindeutig.
Die Stimme der Frau - samtig und
erotisch - klang nach Satinlaken und Kerzenlicht. Die Klänge strichen über
Julians Haut wie liebkosende Hände, verführerisch, aufregend, sinnlich. Die
Sängerin schlug das Publikum in ihren Bann. Rein und klar schienen die Töne
durch die Luft zu tanzen und jeden Zuhörer zu verzaubern.
Julian wusste nichts über diese
Frau, nur dass Gregori ihn geschickt hatte, um sie vor den menschlichen
Vampirjägern zu warnen. Offenbar wollte Prinz Mikhail sie und ihre Band in
Sicherheit wissen.
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