Dunkle Tage, helles Leben - Best Love Rosie
entwickeln sich beide zu Pionierinnen.
Natürlich gibt es auch dunklere Untertöne, und in dieser Geschichte, genau wie in meinem eigenen Leben, gehen im Laufe der Jahre viele wertvolle Dinge für immer verloren. Aber Dunkle Tage, helles Leben – mein fünftes Buch innerhalb von zehn Jahren – ist mein Roman über die Zeit, die ich als Pendlerin zwischen der Melancholie Irlands und dem Optimismus Amerikas verbracht habe. Dieses Buch möchte das feiern, was diese Jahre
mich gelehrt haben: dass die Welt mit ihren unzähligen Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß so unglaublich interessant ist. Und dass man lernen kann, mit dem Schmerz umzugehen: Man muss ihn nur an einen weniger zentralen Ort im eigenen Inneren verbannen. Und dass selbst ein scheinbar hoffnungsloses Leben noch die Möglichkeit der Veränderung in sich birgt – in der Jugend, in den mittleren Jahren und überhaupt zu jeder Zeit.
TEIL EINS
Dublin
1
A m Weihnachtsmorgen lag ich mit Leo im Bett, in einer pensione in Ancona, nicht weit vom Hafen. Das Zimmer war schlecht geheizt, deshalb kostete es mich ziemlich viel Überwindung, mich von Leos warmem Rücken loszureißen und den Arm unter der Bettdecke hervorzustrecken, um meine Tante in Dublin anzurufen.
Niemand nahm ab. Also versuchte ich es bei ihrer Nachbarin.
»Hallo? Reeny? Ja, ich bin’s – Rosie. Fröhliche Weihnachten und alles Gute fürs neue Jahr! Ich bin gerade in Italien. Ja, mit einem Freund – was dachtest du – meinst du, ich bin verrückt? Es hätte sich nicht gelohnt, für die paar Tage nach Hause zu fahren, und wir kriegen nicht länger Urlaub. Hör zu, Reeny – Min geht nicht ans Telefon. Könntest du vielleicht rübergehen und hinten vom Garten zu ihrem Fenster hochrufen? Bei euch ist es doch auch schon elf, oder? Und ich weiß, dass sie zu dir zum Truthahnessen kommt, da müsste sie so langsam aufstehen, würde ich denken.«
»Ach, mach dir keine Sorgen, Min geht es gut«, beruhigte mich Reeny. »Sie war gestern Abend hier, und wir haben gemeinsam ›Eastenders‹ angeschaut. Na ja, manchmal ist sie schon ein bisschen komisch, unsere Min. Es gibt Tage, an denen sie einfach nicht aufsteht, obwohl ihr gar nichts fehlt. Und – ich will dir ja nicht den Urlaub verderben, aber ich wollte es dir sowieso
erzählen, wenn wir uns das nächste Mal sehen – neulich gab’s einen kleinen Zwischenfall, weil sie ein paar Gläschen zu viel getrunken hat. Die Polizei musste sie nach Hause bringen. Min war nämlich plötzlich in der Post im Stadtzentrum, kein Mensch weiß, wie sie’s geschafft hat, von unserem Pub hier in die Innenstadt zu kommen – und dort ist sie gestürzt und konnte nicht mehr aufstehen. Das heißt, ich glaube, sie wollte nicht mehr aufstehen. Sie hat allen Leuten erzählt, dass sie ein Päckchen nach Amerika schicken muss. Die Polizisten waren furchtbar nett zu ihr und haben sie bis vors Haus gefahren. Einer von ihnen hat mir erzählt, dass es gar nicht so leicht war, sie in Schach zu halten, weil sie unbedingt während der Fahrt aus dem Streifenwagen aussteigen wollte. Und wenn Min nicht so eine kleine alte Lady wäre, hätten sie ihr Handschellen anlegen müssen. Seither geht sie fast nicht mehr raus, und im Supermarkt haben sich die Frauen schon darüber unterhalten, dass es am besten wäre, wenn Rosie Barry nach Hause käme.«
»Aber Min will mich doch gar nicht dahaben!«, entgegnete ich lachend.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Reeny, und ich hörte auf zu lachen.
Reeny merkte das nicht. »Ja, so ist das eben, wenn jemand Depressionen hat«, fuhr sie fort. »Ich habe neulich eine Sendung im Fernsehen darüber gesehen. Irgendein Experte hat die These aufgestellt, dass depressive Menschen nicht wissen, was sie wollen.«
»Sag Min doch bitte, dass ich sie heute Abend anrufe. Und dass sie ans Telefon gehen soll – egal, was ist. Wie geht’s dir denn, Reeny? Ist Monty über die Feiertage zu Hause?«
Monty war Reenys Sohn, ein korpulenter, schüchterner Golffanatiker, Anfang oder Mitte vierzig und seit tausend Jahren mit meiner Freundin Peggy zusammen. Sein Vater hatte die Familie verlassen, als Monty noch klein war, und meiner Meinung nach war das Golfspiel etwas, wohinter er sich verschanzte, während
er versuchte, endlich erwachsen zu werden. »Sag ihm, der Weihnachtsmann bringt ihm ein Hole-in-one. Besser geht’s nicht beim Golf, oder?«
Hinter Leos Schulter konnte ich ein Stückchen Adria sehen – strahlend blau, mit weißen Wellenkämmen.
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