Dunkle Verführung: Erotische Vampirstorys (German Edition)
Hütte oder von den Nebengebäuden. Letzte Nacht war sie überzeugt davon gewesen, ein Gesicht am Fenster zu sehen, aber jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Bird meinte, es hätte jemand sein können, der zufällig vorbeikam. Ganz abwegig war das nicht, denn schließlich befanden sie sich auf einem alten Schlittenführer-Pfad. Aber es gab keine Spuren im Schnee.
Eine Spiegelung, war Adrians Erklärung gewesen. Das war ein Argument. Schwaches Nordlicht hatte am Himmel gespielt, ein blassgrüner, hauchdünner Lichtschleier, der sich langsam und graziös entfaltete. Vielleicht hatte er ja einen merkwürdigen Schein geworfen.
Esther begann zu glauben, dass sie sich alles nur eingebildet hatte. Und sie hatte in der Nacht so merkwürdige Träume gehabt, eine verworrene Geschichte, die Nachbilder in ihrem Kopf hinterlassen hatte: ein Pfau und ein rosafarbener Springbrunnen; verschleierte Frauen und Männer mit Turbanen, ein Fluss, auf dem Fischerboote schaukelten, und ein Mann mit leuchtend grünen Augen, der so schön und so real erschien, dass sie nass gewesen war, als sie aufwachte. Doch ihre Lust war mit Einsamkeit und Sehnsucht vermischt gewesen, so intensiv, wie sie es noch nie empfunden hatte. Sie war den Tränen nahe gewesen.
Sie war in ihrem Schlafsack liegen geblieben und hatte darauf gewartet, dass die anderen aufwachten. Zu ihrer Beschämung war sie fast erleichtert gewesen, als sie entdeckten, dass Doug fehlte. Die Panik hatte sie wenigstens aus ihrem Schmerz gerissen.
Esther kochte Tee, setzte sich an den Tisch und wartete. Bird hatte recht: Weit konnte er nicht gegangen sein. Aber je nachdem, wie er gekleidet und ob er verletzt war, konnte er bei den Minustemperaturen nicht lange überleben.
Dies war Esthers dritte größere Expedition. Einmal hatten zwei Teammitglieder sich schwere Erfrierungen zugezogen und mussten ausgeflogen werden, aber größere Tragödien hatte Esther noch nicht erlebt. Doch die Drohung hing immer über einem. Andernfalls hätte es keine Herausforderung gegeben, keinen Grund gegeben, so etwas zu tun, und nicht Ruhm und Ehre, wenn man es schließlich geschafft hatte.
Manchmal fragte sich Esther, was sie mit ihrem Leben anfangen würde, wenn sie nicht das Eis hätte. Sie hatte kaum laufen können, als sie schon auf Skiern gestanden hatte, und ihre Eltern hatten ihr Abenteuerlust und das Gefühl des Staunens eingeflößt. In der Arktis wurde sie zu einer anderen. Sie liebte es, hier zu sein. Es war ruhig und ungezähmt zugleich und durch den Klimawandel eine so instabile, zerbrechliche Landschaft, eine Blase, die kurz vor dem Platzen stand. Das Packeis schmolz, Küstendörfer waren bedroht, Menschen würden ihr Auskommen verlieren und die Eisbären könnten aussterben.
Herrgott, wo zum Teufel steckte Doug?
In dem Gedanken, dass sie ihren Blog aktualisieren könnte, schloss Esther ihren Palm an das Satellitentelefon an. Dann wurde ihr klar, wie dumm das war. Sie hatten keine Verbindung. Der Traum von letzter Nacht ging ihr im Kopf herum. Sie war schon halb entschlossen, darüber zu bloggen, und fragte sich, wer das wohl lesen würde, als sie von draußen ein Geräusch hörte.
»Hallo! Hall … ooo … ooo?«
Ein Mann, und ihr erster Gedanke galt Doug, obwohl es nicht seine Stimme war. Eilig lief sie zur Tür und dachte an Bird oder Adrian, obwohl es auch nicht nach ihnen geklungen hatte. Kein deutscher Akzent; Johannes war es also auch nicht.
»Hallo?« Die Stimme ertönte direkt vor der Tür. Esther riss sie auf, und ein ganzer Schneesturm fegte in die Hütte. Inmitten des Gestöbers stand eine hochgewachsene Gestalt auf Skiern, deren Gesicht hinter einer Sturmhaube und einer Schneebrille verborgen war. Um seinen Kopf schlang sich ungefähr dreißig Zentimeter dicker grauer Pelz wie ein Heiligenschein.
»Hi«, rief er und hob einen Skistock zum Gruß. »Was dagegen, wenn ich hereinkomme?«
Esther trat schon beiseite, um ihn einzulassen, denn unter solchen Umständen fragte man Besucher nicht, ob sie sich ausweisen konnten. Der Mann trat aus seinen Skibindungen und polterte herein. Seine Ausrüstung klapperte, als er in einer Ecke stehen blieb. Esther knallte die Tür zu, um den Sturm auszusperren.
»Puuuh!«, sagte er und zog rasch Kopfbedeckung und Schneebrille aus. Glattes schwarzes Haar quoll unter seiner Sturmhaube hervor, und seine schwarzen Augenbrauen, die so wohlgeformt und elegant wie sein feinknochiges Gesicht waren, hoben sich von seinem blässlichen Teint
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