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Dunkler Dämon

Dunkler Dämon

Titel: Dunkler Dämon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeff Lindsay
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übernahm. Es war immer wieder aufregend, mir selbst zu gestatten, auf den Rücksitz gezogen zu werden und den Passagier fahren zu lassen. Die Schatten schienen schärfere Konturen anzunehmen, und die Dunkelheit verschwamm zu einem lebhaften Grau, in dem alles wesentlich schärfer zu erkennen war. Leise Töne wurden laut und deutlich, meine Haut prickelte, meine Atemzüge dröhnten, und selbst die Luft war erfüllt von Gerüchen, die während des langweiligen üblichen Tagesablaufs natürlich nicht wahrnehmbar waren. Ich war niemals lebendiger, als wenn der Dunkle Passagier fuhr.
    Ich zwang mich, in meinem Sessel Platz zu nehmen, und ich beherrschte mich, spürte, wie das Verlangen mich überschwemmte und eine Flutwelle der Bereitschaft zurückließ. Mit jedem Atemzug durchwehte mich ein Schwall eisiger Luft und pumpte mich auf, größer und leuchtender, bis ich wie ein unbesiegbares Leuchtfeuer aus Stahl war, bereit, durch die mittlerweile dunkle Stadt zu rasen. Und dann war mein Sessel ein dummes kleines Ding, ein Versteck für eine Maus, und nur die Nacht bot Raum genug.
    Und es war Zeit.
    Wir traten hinaus, in die leuchtende Nacht, das Mondlicht prasselte auf mich herab, und der Atem toter Rosen des nächtlichen Miami strich über meine Haut, und im Handumdrehen war ich da, in den Schatten, die MacGregors Hecke warf, lauernd und wartend und lauschend, genau jetzt, auf die Warnung, die sich um mein Gelenk wand und flüsterte:
Geduld
. Es schien erbärmlich, dass er etwas so hell Gleißendes wie mich nicht sehen konnte, und der Gedanke löste eine weitere Welle der Kraft aus. Ich streifte meine weiße Seidenmaske über und war bereit.
    Langsam, unsichtbar, schob ich mich aus der Dunkelheit der Hecke und legte ein Spielzeugkeyboard aus Plastik unter sein Fenster, unter die Gladiolen, damit man es nicht sofort sah. Es war leuchtend rot und blau, weniger als dreißig Zentimeter lang und hatte nur acht Töne, aber es würde dieselben vier Melodien endlos wiederholen, bis die Batterie erstarb. Ich schaltete es ein und glitt zurück in mein Versteck in der Hecke.
    Jingle Bells
erklang und dann
Old MacDonald
. Aus irgendeinem Grund fehlte in jedem Stück ein Akkord, aber das kleine Spielzeug piepste weiter und begann mit
London Bridge,
in dem gleichen fröhlich-verrückten Ton.
    Dabei wäre jeder durchgedreht, aber auf jemanden wie MacGregor, der für Kinder lebte, hatte es vermutlich eine besondere Wirkung. Auf jeden Fall erwartete ich das. Ich hatte das kleine Keyboard mit voller Absicht gewählt, um ihn herauszulocken, und tatsächlich hoffte ich aufrichtig, dass er glaubte, man hätte ihn durchschaut – und dass ein Spielzeug aus der Hölle aufgestiegen sei, um ihn zu bestrafen. Ich meine, warum soll ich keinen Spaß an dem haben, was ich tue?
    Es schien zu funktionieren. Wir befanden uns erst in der dritten Wiederholung von
London Bridge,
als er mit weit aufgerissenen, panischen Augen aus dem Haus stolperte. Er stand einen Augenblick da und gaffte, seine schütter werdenden rötlichen Haare sahen aus, als hätte sie ein Sturm gezaust, und sein bleicher Bauch hing leicht über den Bund der schmuddeligen Schlafanzughose. Auf mich wirkte er nicht schrecklich gefährlich, aber ich war natürlich auch kein fünfjähriger Junge.
    Nach einem Augenblick, in dem er mit aufgerissenem Mund dagestanden und sich gekratzt hatte, wobei er aussah wie ein Modell für die Statue des griechischen Gottes der Dummheit, entdeckte MacGregor die Quelle der Klänge – mittlerweile wieder
Jingle Bells
. Er ging hinüber, berührte das kleine Plastikkeyboard und hatte nicht einmal genug Zeit, überrascht zu sein, bevor ich eine Schlinge aus reißfester Angelschnur eng um seinen Hals zog. Er richtete sich auf und glaubte einen Moment lang, er könnte kämpfen. Ich zog die Schlinge enger, und er änderte seine Meinung.
    »Wehr dich nicht!«, sagten wir mit unserer eisigen, gebieterischen Passagier-Stimme. »Dann lebst du länger.« Und er erkannte seine Zukunft in diesen Worten und glaubte, sie vielleicht ändern zu können, deshalb riss ich hart an seiner Leine und hielt sie fest, bis sein Gesicht sich dunkel verfärbte und er auf die Knie fiel.
    Kurz bevor er vollends bewusstlos wurde, lockerte ich den Druck. »Jetzt tu, was man dir sagt«, sagten wir. Er sagte gar nichts; er keuchte nur in langen, tiefen Zügen, deshalb zog ich ein bisschen an der Leine. »Verstanden?«, fragten wir, und er nickte, deshalb ließ ich ihn atmen.
    Er

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