Dunkler Tod: Louise Boní und der Fall Calambert (German Edition)
Ehemann in den Poren eines halb zerstörten Lebens hinterlassen konnte. Plötzlich war immer Trinkbares zur Hand.
Ich war mit einer Freundin mittagessen, sagte Louise.
Eine Nachbarin hat gestern Abend Geburtstag gefeiert, sagte Louise.
Neues Parfüm, nicht so doll, oder?, sagte Louise.
Als Annetta verschwand, geriet alles andere aus dem Fokus. Nach zwölf Stunden riefen die Eltern an, nach vierundzwanzig Stunden landete der Fall bei Louise, nach achtundvierzig Stunden rief Rolf Bermann die Sonderkommission auf.
Bald darauf wussten sie, wo es geschehen war.
In der malerischen Fischerau hatte ein großer, attraktiver Mann an einem Geländer des Gewerbebachs gelehnt und ein über das Eis schlitterndes Mädchen angesprochen. Das Mädchen hatte gelacht, der Mann auch. »Oui, oui!«, hatte er gerufen.
Zwei Zeugen hatten den Mann Französisch sprechen gehört. Ein weiterer Zeuge hatte auf einem nahen Parkplatz einen weißen Peugeot 306 mit Stufenheck bemerkt, dessen französisches Kennzeichen mit »75« endete – Paris. Ein anderer hatte einen großen, attraktiven Mann und ein Mädchen in den Peugeot steigen sehen.
Louise rief die Kollegen in Paris an. Sie versprachen, die Augen offen zu halten. Ein großer, attraktiver Mann, der einen weißen Peugeot fuhr und seit drei Tagen nicht nach Hause oder ins Büro gekommen war. Grau meliert, unrasiert, dunkler Parka, Jeans, blaue Turnschuhe. Zusammen, stellte Louise sich vor, waren der Mann und Annetta zum Auto geschlittert.
»Mach dir nicht zu viele Hoffnungen«, sagten die Pariser Kollegen.
Hoffnungen? Viel zu gefährlich in diesem Leben. Louise überlebte nur mit Wut, Energie, Willen, Maßlosigkeit.
Und der Schnee fiel, und die Erinnerungen an Micks Geständnis im vergangenen Winter krochen kühl unter ihrer Haut dahin.
Und Tag für Tag kamen Annettas Eltern.
»Sie haben es versprochen«, sagte der Vater.
»Wir kriegen ihn.«
»Er ist mir egal«, sagte die Mutter, »Hauptsache, dem Kind ist nichts passiert.«
Drei Tage, vier Tage, fünf Tage. Dem Kind war alles passiert, nur vielleicht noch nicht das Schlimmste. Louise schwieg. Die Mutter stellte keine Fragen, wollte keine Antworten. Sie wollte nur die Hoffnungen.
»Spricht Annetta Französisch?«
»Ja, sehr gut«, erwiderte der Vater. »Wir waren ein paarmal in Frankreich, das genügte, in Sprachen ist sie sehr gut.«
»Ich stelle mir vor, sie macht eine lange Reise«, sagte die Mutter. »Wir sehen sie nicht, aber wir wissen, dass sie da irgendwo ist.« Sie hob die Hände in Richtung Fenster. »Und irgendwann kommt sie zurück, und vielleicht erzählt sie dann von ihrer Reise, aber vielleicht auch nicht.«
»Er hat sie getötet«, murmelte der Vater. Sein Blick hatte das Foto Annettas aus der Akte entdeckt, die offen vor Louise lag.
»Eine Seereise.« Die Mutter lächelte unter Tränen.
»Wenn so einer kein Geld will, dann will er … quälen und töten.« Der Vater senkte den Kopf, sekundenlang blieb er so, einmal hörte Louise ihn leise stöhnen, und der fast kahle Kopf zuckte.
Die Mutter war aufgestanden und ans Fenster getreten. »Mein Kind ist stark«, sagte sie freundlich. »Mein Kind lebt.«
Louise betrachtete das Foto. Annetta im hochgeschlossenen gelben Blümchenkleid auf einem Sofa, eine hübsche, intelligente Vierzehnjährige, die Augen groß, der Mund ernst, und doch spürte man, dass sie gleich loslachen würde, eine Rolle spielte fürs Fotoalbum der Familie und gleich wieder in kurzen Jeans auf ein Skateboard steigen würde.
Die Mutter hatte sich gesetzt. Die Blicke der Eltern lagen distanziert auf Louise.
»Geben Sie die Hoffnung nicht auf«, sagte sie.
»Sie ist tot«, sagte Bermann am späten Abend, und die Worte hallten in dem verwaisten Flur wider. Seine Augen starrten sie aus tiefen Höhlen an, sein Gesicht war grau. Zum ersten Mal sah Louise ihn so, kein Gran Gesundheit und Frische mehr an diesem Bären von schlecht erzogenem Mann. »Wie kannst du denken, dass sie noch lebt?«
»Manche Menschen sind nicht so einfach umzubringen.«
Er schüttelte den Kopf, fassungslos, erbost. »Selten was Blöderes gehört. Geh heim, Luis, schlaf.«
Zu Hause hockte sie vor dem Spülenunterschrank und zählte in unterschiedlichen Rhythmen und Melodien zahllose leere Flaschen, bis aus dem Zählen ein niedliches Spiel geworden und der Schreck gewichen war. Sie schlief ein bisschen an Ort und Stelle, auf dem Küchenboden. Als sie erwachte, schlenderte ein geisterhafter Mick durch die Wohnung und
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