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Die Fäden des Schicksals

Die Fäden des Schicksals

Titel: Die Fäden des Schicksals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Bostwick
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Prolog
    Evelyn Dixon
    Was für mich zu meinen schönsten Erinnerungen zählt, war für meine Mutter einer der schlimmsten Augenblicke ihres Lebens.
    Es war Sommer. Ich war fünf Jahre alt und sollte in wenigen Wochen in den Kindergarten kommen. Meine Mutter hatte beschlossen, mir zu diesem Anlass neue Schuhe zu kaufen. Sie setzte sich hinter das Steuer unseres Ford Fairlane und kurbelte das Fenster herunter, damit wir nicht vor Hitze umkamen und ihr Zigarettenrauch abziehen konnte. Ich kletterte auf den Beifahrersitz, dann ging es los.
    Der Sicherheitsgurt, den die vorausschauenden Gesetzgeber von Wisconsin zwei Jahre zuvor zur Pflicht gemacht hatten, lag nachlässig in den Spalt zwischen den Sitzen gestopft, zusammen mit alten Tankquittungen, Kaugummipapier und einer Mischung aus Sand und Kekskrümeln – den Überresten unseres jährlichen Strandurlaubs in der Door County. Es wäre meiner Mutter nicht im Traum eingefallen, für die kurze Fahrt zu J. C. Penneys Warenhaus den Gurt herauszufummeln und ihn über meinem Schoß festzuzurren. Im Jahr 1963 hatte man noch nicht so viel zu befürchten.
    Penney war das einzige Geschäft in unserer Stadt, das eine Rolltreppe vorzuweisen hatte, und diesen Status konnte es noch weitere acht Jahre behaupten. Als später ein großes Einkaufszentrum am Stadtrand gebaut wurde, zog auch J. C. Penney dorthin und gab den Standort in der Innenstadt auf. Zurück blieb ein ganzer Gebäudekomplex auf der Main Street, mit zugeklebten Schaufenstern und einem leeren Parkplatz. Das neue Einkaufszentrum besaß drei Rolltreppen und einen zentralen gläsernen Fahrstuhl mit goldfarbener Innenverkleidung und weißer Neonbeleuchtung. Die vier Kaufhäuser dort waren mindestens zweimal so groß wie unser altes J. C. Penney. Doch damals, 1963, war Penney noch das größte Geschäft der Stadt, und ich war davon überzeugt, dass es dort alles zu kaufen gab, was man sich nur denken konnte.
    Nachdem wir ein Paar weiß-braune Schuhe erstanden hatten, die haargenau jenen glichen, aus denen ich herausgewachsen war, fiel meiner Mutter ein, dass sie einen von diesen neuen elektrischen Kaffeebereitern brauchte. Also fuhren wir mit der Rolltreppe nach oben in die Haushaltswarenabteilung.
    Normalerweise hielt ich mich immer dicht bei meiner Mutter, und ich weiß nicht, was mich an jenem Tag überkam. Jedenfalls schlich ich mich heimlich davon, um die Bad- und Bettenabteilung zu inspizieren, während sie noch überlegte, ob sie das Modell für acht oder zehn Tassen nehmen sollte.
    Während ich so zwischen den hohen Regalen voller Bettwäsche herumspazierte, bewunderte ich die feinen Borten und die Stickerei an den Ecken der Kopfkissenbezüge und bohrte mit dem Finger Löcher in die Zellophanverpackungen, damit ich über den frischen, glatten Stoff streichen konnte. Dabei staunte ich über die riesigen Stapel von Wäsche rings um mich her und stellte fest, dass ihr Weiß nicht einfach weiß war, sondern die unterschiedlichsten Nuancen aufwies, von Schneeweiß über Alabaster- und Marshmallow-weiß bis hin zu einem zarten Perlton. Es war verblüffend.
    Plötzlich hörte ich die Stimme meiner Mutter. Es klang wie der gleiche ruhige Singsang, mit dem sie mich jeden Abend zum Essen rief: »Eeeve-lyn.« Dabei lag die Betonung auf der ersten lang gezogenen Silbe, die in eine Art kurzes, tiefes Zirpen überging – der geheime Lockruf zwischen Henne und Küken. Ich folgte der Stimme meiner Mutter, doch als ich in der tiefen Schlucht zwischen den haushohen Wäschestapeln um eine Ecke bog, blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen.
    Mein staunender Blick fiel auf Mitternachtsblau, bevor er weiter nach oben über Marine-, Königs- und Kobaltblau wanderte, um dann Aquamarin, Türkis, Avocado-, Moos-und Waldgrün zu streifen. An der Decke angelangt, senkten sich meine Augen erneut, an Reihen von Gelb – Zitronengelb, Neongelb und allen erdenklichen Schattierungen von Sonnengelb – entlang und weiter über Orange, Pfirsichrosa bis zu Rostrot, nur um vom Boden aus die Reise erneut in umgekehrter Richtung anzutreten. Ich stand vor einer Regalwand, vollgepackt mit Handtüchern. Sie leuchteten in allen Farben des Regenbogens. Beim Nähertreten hüllten mich die Farben förmlich ein, und auf einmal – warum, weiß ich bis heute nicht zu sagen – fühlte ich mich restlos glücklich.
    Ich vergaß meine Mutter vollkommen, merkte überhaupt nicht, dass ihr Zirpen von einer Minute zur anderen lauter und dringlicher wurde. Wie ein

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