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Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Titel: Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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Sekunden sagte sie:
    »Ich habe mir so etwas schon die ganze Zeit gedacht, ehrlich. Aber ich habe mich nicht getraut zu fragen. Ich hätte mich ja auch irren können. Ich weiß nämlich nicht, ob ich überhaupt an Engel glaube.«
    Diese Behauptung fegte er mit großer Geste beiseite.
    »Ich finde, das Spiel sollten wir uns schenken. Stell dir vor, ich würde sagen: Ich weiß nicht, ob ich an dich glaube. Dann könnten wir doch unmöglich beweisen, wer von uns recht hat.«
    Wie um zu demonstrieren, daß er ein gesunder und zurechnungsfähiger Engel sei, sprang er von der Fensterbank auf den Schreibtisch und lief auf der Tischplatte hin und her. Zweimal schien er das Gleichgewicht zu verlieren und auf den Boden zu fallen, aber in letzter Sekunde fing er sich jedesmal wieder. Einmal schien er sich sogar zu fangen, als es dafür eigentlich schon zu spät war.
    »Ein Engel bei mir zu Haus«, murmelte Cecilie vor sich hin, als wäre es der Titel von einem Buch, das sie gelesen hatte.
    »Wir nennen uns einfach nur Gotteskinder«, erwiderte Ariel.
    Sie blickte zu ihm hoch.
    »Du dich zumindest ...«
    »Wie meinst du das?«
    Cecilie versuchte sich im Bett etwas mehr aufzurichten, sank aber schwer zurück auf ihr Kissen.
    »Du bist doch bloß so ein Engelkind«, sagte sie.
    Er lachte ein lautloses Lachen.
    »Was ist daran so lustig?«
    »Engelkind. Findest du das kein lustiges Wort?«
    Cecilie wußte nicht, warum sie das Wort überhaupt nicht lustig fand.
    »Du bist ja wohl kein erwachsener Engel«, sagte sie. »Also mußt du ein Engelkind sein.«
    Wieder lachte Ariel, diesmal etwas lauter.
    »Engel wachsen nicht auf Bäumen«, sagte er. »Wir wachsen überhaupt nicht, deshalb werden wir auch nicht erwachsen^«
    »Ich glaub, gleich fall ich in Ohnmacht«, rief Cecilie.
    »Wie schade, jetzt, wo wir schon so weit gekommen sind.«
    »Aber ich dachte, Engel waren immer erwachsen«, beharrte sie.
    Ariel zuckte mit den Schultern.
    »Ist nicht dein Fehler. Du kannst ja nur raten, was es auf der anderen Seite gibt.«
    »Soll das heißen, es gibt überhaupt keine erwachsenen Engel?«
    Er lachte ein perlendes Lachen. Cecilie mußte an Lasses Klicker denken, wenn die über den Küchenboden kullerten. Aber jetzt brauchte sie wenigstens nicht beim Aufsammeln zu helfen.
    »Also gibt es keinen einzigen erwachsenen Engel«, stellte sie fest. »Von mir aus gern, nur gibt es dann auch keinen einzigen echten Pastor. Pastoren behaupten nämlich ständig, es wimmele nur so von erwachsenen Engeln im Himmel.«
    Einen Moment war es ganz still, dann zeigte der Engel Ariel mit eleganter Geste ins Zimmer.
    »Es wimmelt nur so von erwachsenen Engeln im Himmel!« rief er. »Es wimmelt!«
    Als Cecilie nicht sofort etwas sagte, fügte er hinzu:
    »Es ist ganz toll, mit dir zu reden, Cecilie!«
    Sie nagte an ihrem Daumen. Dann rutschte ihr die Bemerkung heraus:
    »Ich wüßte ja gern, was das für ein Gefühl ist, erwachsen zu sein.«
    Ariel setzte sich auf den Schreibtisch und baumelte mit den nackten Beinen.
    »Möchtest du darüber reden?«
    Sie blieb liegen und starrte die Decke an.
    »Mein Lehrer sagt, Kindheit ist nur eine Station auf dem Weg zum Erwachsensein. Deshalb müssen wir unsere Hausaufgaben machen und uns auf das Erwachsenenleben vorbereiten. Ist das nicht bescheuert?«
    Ariel nickte.
    »In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt.«
    »Wie bitte?«
    »Erwachsensein ist nur eine Station auf dem Weg zur Geburt neuer Kinder.«
    Cecilie dachte erst einmal nach, ehe sie antwortete.
    »Aber die Erwachsenen sind zuerst erschaffen worden. Wenn nicht, gäbe es keine Kinder.«
    Ariel schüttelte den Kopf.
    »Wieder falsch. Die Kinder sind zuerst erschaffen worden. Wenn nicht, gäbe es keine Erwachsenen.«
    Cecilie kam eine schlaue Idee:
    »Die Frage ist, was war zuerst da, die Henne oder das Ei.«
    Er baumelte wieder mit den Beinen.
    »Amüsiert ihr euch immer noch mit dem alten Rätsel? Ich habe es zum ersten Mal von einem Hühnerhirten in Indien gehört, aber das ist schon viele tausend Jahre her. Der Mann bückte sich über ein Huhn, das gerade ein großes Ei gelegt hatte. Dann kratzte er sich am Kopf. >Ich wüßte zu gern, was zu allererst da war<, sagte er schließlich, >die Henne oder das Ei.<«
    Cecilie blickte verlegen zu Ariel auf, und der Engel erklärte:
    »Natürlich mußte zuerst das Ei da sein.«
    »Warum denn?«
    »Sonst hätte es ja kein Huhn geben können. Du glaubst
    doch nicht etwa, das erste Huhn der Welt sei einfach so aus der Luft

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