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Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort

Titel: Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Gaarder
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den Stühlen vor ihrem Bett.
    Bald kam der Engel Ariel durch das offene Fenster geschwebt. Er setzte sich auf den Schreibtisch. Cecilie stieg aus dem Bett und stellte sich ihm gegenüber.
    »Na, bist du auch mal wieder da«, sagte sie.
    Er antwortete nicht direkt darauf.
    »Magst du eine Runde mit mir fliegen?«
    Sie lachte.
    »Aber ich kann doch nicht fliegen.«
    Der Engel Ariel seufzte nachsichtig.
    »Hör endlich auf mit dem Unsinn. Komm einfach her.«
    Und Cecilie trat auf den Engel Ariel zu.
    Er nahm ihre Hand. Im nächsten Moment schwebten sie durch das offene Fenster, über die Scheune und über die weite Landschaft. Es war noch früh am Morgen, die Sonne war noch nicht aufgestanden zu einem neuen Wintertag.
    »Herrlich!« sagte Cecilie. »Einfach engelhaft!«
    Fliegen war noch wunderbarer, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie spürte ein Kitzeln im Magen, als sie auf die spitzen Kiefernwipfel hinunterblickte, wenn sie den Kopf hob, konnte sie meilenweit in alle Richtungen blicken. Sie zeigte auf Gardermoen, Heksebergasen, Hurdalssj0 und Mj0sa hinunter. In der Ferne konnte sie den Oslofjord sehen und weit dahinter das Meer noch erkennen.
    Sie kreisten eine Weile über dem Ravnekollen. Von hier oben sah er aus wie ein kleiner Zuckerhut.
    »Jetzt sind wir genau wie Odins Raben«, sagte sie.
    »Genau«, antwortete der Engel Ariel. »Und wenn wir uns auf Gottes rechte Hand setzen, werden wir ihm alles erzählen, was wir gesehen haben.«
    Etwas später flogen sie zum offenen Fenster zurück und setzten sich auf die Fensterbank, wo Ariel bei seinem ersten Besuch gesessen hatte.
    Beide blickten auf Cecilies Bett. Sie fand es seltsam, daß sie sich selbst dort liegen sehen konnte. Ihre blonden Haare waren über das Kissen gebreitet, und auf die Bettdecke hatten sie den alten Weihnachtsstern gelegt.
    »Ich finde mich auch schön, wenn ich schlafe«, sagte sie.
    Ariel hielt ihre eine Hand. Er blickte zu ihr hoch und sagte:
    »So, wie du hier sitzt, bist du noch schöner.«
    »Aber das kann ich nicht sehen, jetzt bin ich doch auf der anderen Seite des Spiegels.«
    Erst, als sie das gesagt hatte, ließ Ariel ihre Hand los.
    »Du siehst aus wie ein prächtig gekleideter Schmetterling, der von Gottes Hand losgeflogen ist«, sagte er.
    Sie sah sich im Zimmer um. Ein dünner Streifen Morgensonne zog sich über Schreibtisch und Boden. Unter Cecilies Bett hatten einige Strahlen den Weg zu dem chinesischen Notizbuch gefunden. Sie sah, wie die vielen Seidenfäden glitzerten und funkelten.

 
     
     
     
     
     
     
    Wir sehen jetzt durch einen Spiegel,
    in einem dunklen Wort;
    dann aber von Angesicht zu Angesicht.
    Jetzt erkenne ich stückweise;
    dann aber werde ich erkennen,
    gleichwie ich erkannt bin.
     
    Erster Brief des Paulus an die Korinther,
    13. Kapitel, Vers 12.

 



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