Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort
S ie hatten die Flurtür offenstehen lassen. Die Weihnachtsdüfte schwebten aus dem Erdgeschoß zu Cecilie hinauf. Sie versuchte, die einzelnen Gerüche zu unterscheiden.
Kümmelkohl war auf jeden Fall dabei. Und ganz sicher Weihrauchkörner, die Papa auf den Kamin gestellt hatte, ehe sie in die Kirche gegangen waren. Und erhaschte sie jetzt nicht auch den frischen Duft des Weihnachtsbaums?
Cecilie atmete wieder tief ein. Sie glaubte, den Geruch der Geschenke unter dem Weihnachtsbaum wahrzunehmen, des roten Weihnachtspapiers und des goldenen Glanzpapiers mit Geschenkaufklebern und Seidenband. Aber es gab noch einen andern Geruch - unbestimmbar, zauberhaft, magisch: den Duft der Weihnachtsstimmung.
Sie schnupperte und machte sich an den Türchen des Adventskalenders über ihrem Bett zu schaffen. Alle vierundzwanzig standen offen. Das größte hatte sie heute aufgeklappt. Sie sah sich noch einmal den Engel an, der sich über die Krippe mit dem Jesuskind beugte. Im Hintergrund standen Maria und Josef, aber sie schienen überhaupt nicht auf den Engel zu achten.
Ob der Engel wirklich im Stall war, ohne daß Maria und Josef ihn sehen konnten?
Cecilie blickte sich im Zimmer um. Sie hatte die rote Lampe an der Decke, die weißen Vorhänge mit dem blauen Vergißmeinnicht-Muster und das Bücherregal mit den Büchern und Puppen, Kristallen und Schmucksteinen so oft angesehen, daß alles zu einem Teil ihrer selbst geworden war. Auf dem Schreibtisch vor dem Fenster lag neben der alten Kinderbibel und Snorres Götterlehre der Reiseführer über Kreta. An der Wand zum Schlafzimmer ihrer Eltern hing der griechische Kalender mit den niedlichen Katzen. Und am selben Nagel hing auch die alte Perlenkette, die Großmutter ihr geschenkt hatte.
Wie oft sie die siebenundzwanzig Gardinenringe an der Stange wohl schon gezählt hatte? Und warum saßen an der einen Stange dreizehn und an der anderen vierzehn Ringe? Wie oft hatte sie schon die Hefte der »Illustrierten Wissenschaft« auf dem dicken Stapel unter dem Schreibtisch zu zählen versucht? Jedesmal mußte sie irgendwann aufgeben. Sie hatte es auch aufgegeben, die Blumen im Vorhangstoff zu zählen. Immer versteckten sich noch ein paar Vergißmeinnicht in den Falten.
Unter dem Bett lag das chinesische Tagebuch. Cecilie tastete nach ihm ... da, und daneben lag auch der Filzstift.
Das chinesische Tagebuch, ein mit Stoff bezogenes kleines Notizbuch, hatte ihr ein Arzt im Krankenhaus geschenkt. Wenn sie es ins Licht hielt, glitzerten die schwarzen, grünen und roten Seidenfäden.
Sie hatte nicht die Kraft gehabt, ausführlich Tagebuch zu schreiben, und besonders viel hatte sie auch nicht zu erzählen gehabt, aber sie hatte beschlossen, alle Gedanken zu notieren, die ihr so kamen, während sie hier im Bett lag. Sie hatte sich geschworen, nichts auszulöschen, jedes einzelne Wort sollte bis zum Jüngsten Tag stehenbleiben. Es würde später, wenn sie erwachsen war, sicher komisch sein, in dem Tagebuch zu lesen. Auf die erste Seite hatte sie ganz groß geschrieben:
CECILIE SKOTBUS PERSÖNLICHE NOTIZEN.
Jetzt ließ sie sich wieder auf ihr Kissen sinken und lauschte nach unten. Ab und zu klapperte Mama in der Küche mit Besteck, ansonsten war das Haus ganz still ...
Die anderen konnten jeden Moment aus der Kirche zurückkommen. Kurz davor - oder kurz danach - würde Weihnachten eingeläutet werden. Sie konnten die Kirchenglocken von Skotbu aus nur mit Mühe hören. Deshalb stellten sie sich jedes Jahr draußen auf die Treppe.
Aber an diesem Heiligen Abend konnte Cecilie nicht draußen auf der Treppe zuhören, wie Weihnachten eingeläutet wurde. Sie war krank, und zwar nicht nur ein bißchen - ein bißchen krank war sie im Oktober und im November gewesen. Im Moment war Cecilie so krank, daß Weihnachten ihr wie eine Handvoll Sand vorkam, die ihr durch die Finger rieselte, während sie schlief oder nur halb wach war. Aber immerhin mußte sie nicht ins Krankenhaus. Dort war schon Anfang Dezember die Weihnachtsdekoration angebracht worden.
Gut, daß sie nicht zum ersten Mal ein Weihnachtsfest erlebte. Cecilie hatte das Gefühl, daß sich alles auf der Welt verändert hatte, nur Weihnachten in Skotbu nicht. Für einige Tage machten die Menschen genau dasselbe wie jedes Jahr, ohne nachzudenken, warum. »Weil es Tradition ist«, sagten sie. Und das reichte als Grund.
In den letzten Tagen hatte sie versucht, alles mitzubekommen, was im Erdgeschoß passierte. Kleine Klangblasen, die aus der
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