Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
einfach mit einer Anspielung auf Loesers Exfreundin Marlene.
Vor drei Wochen hatte Loeser sich nach einer sieben- oder achtmonatigen Beziehung von Marlene Schibelsky getrennt. Sie war ein oberflächliches Mädchen, und Loeser wusste, dass er sich nicht auf oberflächliche Mädchen einlassen sollte, aber sie war gut im Bett, und bis zu dem Tag, da entweder Hirn oder Penis in Loesers innerem Reichstag eine tragfähige Mehrheit erringen konnte, schien es keine Hoffnung auf Veränderung zu geben. Was ihn aus dieser verfahrenen Lage befreite, war eine Begebenheit auf einer kleinen Party der Schauspieler in einem Strandower Café.
Recht spät am Abend hörte Loeser Teile eines Gesprächs über Dilettantismus im kulturellen Leben von Berlin an einem Nebentisch mit, und einer der fünf oder sechs Menschen an diesem Tisch war der Komponist Jascha Drabsfarben. Das war aus zweierlei Gründen überraschend. Erstens war es überraschend, Drabsfarben überhaupt auf einer Party zu sehen, weil Drabsfarben nicht auf Partys ging. Und zweitens war es überraschend, dass dieses spezifische Thema in Drabsfarbens Gegenwart aufs Tapet gebracht wurde, denn bei jeder Diskussion über Dilettantismus im kulturellen Leben Berlins war Drabsfarben das offensichtliche und unvermeidliche Gegenbeispiel, sodass entweder jemand in Drabsfarbens Gegenwart Drabsfarbens Ruf würde ins Gespräch bringen müssen, was für alle Anwesenden unangenehm wäre, weil es nach Lobhudelei klingen würde und man einem Mann wie Drabsfarben nicht lobhudelte, oder niemand es tun würde, was für alle Anwesenden ebenfalls unangenehm wäre, weil diese Auslassung immer unüberhörbarer pochen würde, je länger die Diskussion andauerte.
Loeser war, wie die meisten seiner Freunde, einigermaßen enthusiastisch, was seine eigenen künstlerischen Unternehmungen anging, aber Drabsfarben wurde eine so respekteinflößende Hingabe nachgesagt, dass er, sollte er jemals an felsigen Gestaden Schiffbruch erleiden, sich wahrscheinlich lieber ein Klavier aus getrocknetem Seetang und Möwenknochen bauen würde, als seine Arbeit auch nur für einen Nachmittag zu unterbrechen. Sex bedeutete ihm nichts; Politik bedeutete ihm nichts; Ruhm bedeutete ihm nichts; auch die Gesellschaft bedeutete ihm nichts, es sei denn, er glaubte, ein bestimmter Regisseur oder Förderer oder Kritiker könnte ihm helfen, sein Werk zu Gehör zu bringen, worauf er zu exakt so vielen Abendessen und Empfängen erschien, wie nötig waren, um diesen Menschen auf seine Seite zu bringen. Sein jüngstes Werk war ein atonales Klavierkonzert, dessen Partitur sich von einer Versicherungsstatistik über Unfälle von Heißluftballonen ableitete, und im Grunde schienen die meisten seiner Musikstücke ihren Zuhörern eine intellektuelle Beharrlichkeit abzuverlangen, welche die ihres Schöpfers fast noch übertraf. Vor Drabsfarben kam Loeser sich mit anderen Worten ein bisschen wie ein Hochstapler vor. Aber das störte Loeser normalerweise nicht. Manchmal dachte er sogar, Drabsfarben könnte der einzige Mensch in Berlin sein, vor dem er wirklich Respekt hatte. Deshalb regte es ihn so auf, als Hecht sagte: »Offenbar fangen ganz viele Menschen sowieso nur aus narzisstischen Motiven mit dem Theatermachen an – wisst ihr, wie … wie …« Und da sagte Drabsfarben, der bis dahin geschwiegen hatte: »Wie Loeser?«
Nüchtern hätte das Loeser nur peripher tangiert, aber zwei Flaschen schlechten Rotweins hatten ihn in das emotionale Pendant zu einem jener seltsamen peruanischen Frösche verwandelt, deren Haut so durchscheinend ist, dass man ihre schreckhaften kleinen Herzen sieht. Eilig verließ er die Party, und Marlene lief ihm auf die kalte Straße nach und fand ihn auf dem Bordstein sitzend, die Hacken im Abfluss, weinend, geradezu winselnd. »Das ist es also, was sie alle von mir denken? Das ist es also, was sie alle wirklich von mir denken?« Obwohl er diese Krise am nächsten Morgen wahrscheinlich ganz vergessen haben würde, oder vielleicht auch schon, wenn die Party zu Ende war, tröstete sie ihn, so gut sie konnte.
Und da sagte sie es. »Rutsch nicht ab ins Dunkel, mein Liebling. Rutsch nicht ab ins Dunkel.«
Selbst in betrunkenem Zustand erkannte Loeser diese Worte sofort wieder. Sie entstammten einem grässlich schmalzigen amerikanischen Film mit dem Titel Narben der Lust , den sie im Kino in der Ranekstraße gesehen hatten. Beim Abendessen und während des ganzen Wegs zurück zu ihm nach Hause hatte Loeser sich
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