Egon Loesers erstaunlicher Mechanismus zur beinahe augenblicklichen Beforderung eines Menschen von Ort zu Ort
über den Film lustig gemacht und war sich dabei so witzig vorgekommen, dass er fand, er sollte vielleicht eine kleine Satire für irgendeine Zeitschrift schreiben, und er hatte wirklich geglaubt, dass Marlene ihm zustimmen würde, bis er ihr leises Schluchzen bemerkte und sie gestand, sie habe den Film ganz toll gefunden und das Gefühl gehabt, er sei »nur für [sie]« gedreht worden. Er wechselte das Thema. Marlene sah sich Narben der Lust noch viermal an, zweimal mit Freundinnen, zweimal allein. In der Zusammenfassung: Gegen Ende des Films durchleidet der Protagonist moralische Krämpfe angesichts der Frage, ob er die Protagonistin heiraten soll, denn sie war vorher mit seinem Bruder verlobt, der im Krieg gefallen ist. Er fängt an zu weinen und das Mobiliar zu zerlegen, und wir merken, dass es eigentlich nicht seine neue Verlobte ist, die ihn wütend macht, sondern die Sinnlosigkeit des Todes seines Bruders. Die Protagonistin bringt ihn wieder zu sich, indem sie ihm zuflüstert: »Rutsch nicht ab ins Dunkel, mein Liebling. Rutsch nicht ab ins Dunkel.«
Das Problem war nicht, dass Marlene aus dem Film zitierte, obwohl schon das schlimm genug war. Das Problem war, dass sie den Text sagte, als stammte er nicht aus einem Film, sondern tief aus ihrem Herzen. Sie hatte das müde Angebot eines Drehbuchschreibers so stark verinnerlicht, dass ihr dessen kommerzieller Ursprung nicht einmal mehr ansatzweise bewusst war. Narben der Lust war ihr in die Persönlichkeit geschraubt worden wie eine Plastikprothese.
Natürlich trennte er sich tags darauf von ihr.
»Du willst mir also einreden, Marlene sei eine Art körperliche Manifestation des 20. Jahrhunderts?«, sagte Loeser und trank von seinem Schnaps.
»Ja«, sagte Achleitner. »Weil sie Gefühle, die man ihr verkauft hat, so nah an ihrem Herzen hegt wie ihre eigenen. Vielleicht sogar noch näher. Wie eine Elster ein Kuckucksei aus dem Sonderangebot. Hast du sie je hierher mitgebracht?«
»Ein Mal, weißt du nicht mehr? Du warst dabei.«
»Hat es ihr gefallen? Sie dürfte sich hier doch ganz heimisch gefühlt haben.«
Die Jazzkapelle beschloss »Georgia on my mind« und machte einen Abgang hinter die Bühne, zurück auf irgendeine Art-déco-Schweineranch vielleicht. »Wie gemein von dir«, sagte Loeser. »Du weißt, dass sie heute Abend wahrscheinlich auf die Party kommt? Da gehe ich ohne Koks bestimmt nicht hin.«
»Warum musst du jedes Mal eine riesige Krise daraus machen, wenn du mit einer deiner Exfreundinnen in einem Raum bist, Egon? Das ist schrecklich langweilig.«
»Komm schon. Du weißt doch, wie das ist. Du entdeckst eine alte Flamme, und schon bekommst du dieses atemlose tierische Prickeln wie ein Fuchs, der mit einem Jagdhund zusammengesperrt ist. Und dann musst du den ganzen Abend lang sorglos und beschwingt tun, eine Heuchelei, zu der du dich aus irgendeinem Grund gezwungen fühlst, obwohl du weißt, dass sie viel besser als sonst irgendjemand auf der Welt sofort spüren kann, dass du noch immer der gleiche glücklose Sack bist wie früher.«
»Das ist pubertär. Da du im Umgang mit deinen Liebhaberinnen von früher so neurotisch bist, ist es sowohl verständlich als auch ein Glück, dass du so wenige davon hast. Es handelt sich um eines jener eleganten selbstregulierenden Systeme, die man in der Natur so oft antrifft.«
»Ich darf diese Trennung nicht vergeigen. Wir haben alle erlebt, wie es den Besiegten ergeht.«
»Du hast sie nicht einmal gemocht.«
»Ich weiß. Aber wenigstens wollte sie Sex mit mir. Und es war richtig gut. Wann werde ich jemals wieder mit jemandem Sex haben? Ohne zu bezahlen, meine ich. Im Ernst – wann? Manchmal wünschte ich, ich wäre schwul wie du. Ich habe noch nie erlebt, dass du dich mit solchen Fragen quälst. Wie vielen glückseligen Pilgern hast du in diesem Jahr deinen Segen erteilt?«
»Keine Ahnung. Ich habe schon aufgehört zu zählen, als ich noch in der Schule war. Sag noch mal, wo du jetzt stehst.«
»Bei fünf. Im ganzen Leben. Nutten nicht mitgezählt. Manchmal drehe ich mich auf der Straße nach ihnen allen um und komme mir vor wie gekreuzigt an einem Kreuz aus schönen Frauen. Manchmal wenn ich aus der Wanne steige, sehe ich mich kurz im Spiegel und habe das Gefühl, selbst mein Penis ist bitter enttäuscht von mir.«
Die ganzen zwanziger Jahre hindurch war Deutschland voller Lehrer, Ärzte, Psychoanalytiker, Soziologen, Dichter und Romanschreiber gewesen, die unbedingt mit dir über Sex reden
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