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Ehen in Philippsburg

Ehen in Philippsburg

Titel: Ehen in Philippsburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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Sie sah auf. Das laute Wesen ihrer Mutter schien ihr peinlich zu sein. Sie lächelte ein bißchen, ging Hans entgegen und begrüßte ihn mit ihrer leisen, viel zu hohen Stimme. Ihr Mund nämlich war breit, allerdings schmallippig, das schwarzbraune Haar stand in dicken kräuseligen Nestern bewegungslos um ihr weitausladendes Gesicht, die Glieder waren kräftig und schienen ein bißchen zu schwer zu sein für dieses Mädchen (er erinnerte sich, daß sie sich immer nur langsam bewegte, als mache es ihr Mühe): deshalb war man überrascht, daß ihre Stimme so hoch war, hoch und schwach; Hans dachte: eigentlich piepst sie. Vielleicht war ihm das jetzt nur deshalb aufgefallen, weil die Mutter, die einen ähnlichen breiten Mund hatte, sonst aber viel feingliedriger war, mit einer tiefen, ein wenig angerauhten Stimme sprach; wahrscheinlich rauchte sie sehr viel. Hans wußte, daß er, solange Frau Volkmann im Zimmer war, keinen rechten Satz hervorbringen würde. So ging es ihm immer, wenn er von jemand vorgestellt oder eingeführt wurde, der rasch und viel sprach. Ließ man ihn nicht gleich in den ersten Minuten zu Wort kommen, geschah es gar, daß das Wort zwischen den anderen Anwesenden mehr als zweimal hin und her wechselte, ohne daß er Einlaß in das Gespräch gefunden hatte, so schlug das Schweigen über ihm zusammen, seine Kehle wurde trocken, sein Mund versteinte, er wurde zu einem stummen Zuhörer, von dem die anderen keine Äußerung mehr erwarten durften, weil sie ja das Wort schon übernommen hatten, gewissermaßen für immer; es müßte in solchen Situationen hinter dem Rücken aller Anwesenden schon etwas ganz Schreckliches passieren, Feuer ausbrechen oder noch Schlimmeres, und er müßte es als einziger entdecken, das würde seinen Mund vielleicht für einen einzigen Schrei entsiegeln. Anne schien ihn zu verstehen. Vielleicht litt auch sie zuweilen unter der Redseligkeit ihrer Mutter. Sie begann, ihre Mutter, während die noch sprach und sprach, zur Tür hinauszudrängen. Dann schloß sie die Tür, bot Hans einen Platz an, setzte sich und strickte weiter. Rasch und anscheinend gefühllos wie eine Lohnstrickerin klapperte sie mit den Nadeln, daß es aussah, als haste sie, die zwei Knäuel Wolle, der eine tiefbraun, hellbeige der andere, in eine gemusterte Fläche zu verwandeln; aber das Stricken sieht ja immer hastig aus, wenn die Strickerinnen auch ganz ruhig sind und dem blitzenden Gefecht der beiden Nadeln zuschauen, als ginge es sie gar nichts an. Es war spät am Abend, als Hans die in die Erde eingelassenen Steintreppen hinab zur Straße ging. Er hatte das Mittagessen und den Nachmittagskaffee und das Abendessen und noch eine Bowle, die extra ihm zu Ehren zubereitet worden war, einnehmen müssen; Herrn Volkmann hatte er kennenlernen müssen und Annes Vergangenheit und Gegenwart; ihre allmählich vom Horizont sich herschiebende Zukunft konnte er sich jetzt selbst ergänzen. An der Hochschule war Anne ganze vier Semester gewesen. Er hatte sie damals nicht näher kennengelernt. An ein paar Nachmittage erinnerte er sich, an Nachmittage in riesigen Hörsälen, an die träge rinnende Stimme eines Professors, die sich einen Weg durch die schräg einfallenden Sonnenbahnen zu den Ohren der Studenten suchte, an Nachmittage auf heißen Kieswegen im Hochschulgarten; sie waren vom Hören müde gewesen, ohne Interesse für die Wissenschaft, Anne hatte vorgeschlagen, an den Fluß zu gehen, ihm war es zu anstrengend gewesen, er war aber doch mitgegangen, und nach einer durchzechten Nacht hatte er sie heimgebracht, hatte sie sogar geküßt, einfach weil das dazu gehörte, wenn man getanzt hat, so, wie man eine Tür abschließt, wenn man nachts als letzter ins Haus kommt. Als er aber heute in Annes Zimmer getreten war, war es ihm plötzlich eingefallen: sie würde niemals einen Mann bekommen. Sie saß wie eine Sechzigjährige, aufrecht und unbequem und eifrig, gegen alle Natur, eine alte Jungfer, trotz der modernen Farben, die sie trug. Vielleicht war ihre Mutter schuld daran. Aus Protest gegen sie schien Anne eine alte Jungfer werden zu müssen. Natürlich wollte sie einen Mann, das war nicht zu überhören gewesen. Aber vor allem wollte sie nicht so sein wie ihre Mutter. Sie hatte ihm erzählt, daß sie sich jeden Tag nach dem Frühstück in ihr Zimmer zurückziehe, um nicht mit ihrer Mutter sprechen zu müssen. Sie haßte die freundschaftlichen Angebote ihrer Mutter, die ihr immer wieder vorschlug, ihr alle Sorgen

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