Ehen in Philippsburg
Martin Walser
Ehen in Philippsburg
Roman
Suhrkamp Verlag
9. und 10. Tausend 1983
© Copyright 1957 by Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main
Alle Rechte vorbehalten
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Printed in Germany
Wie Hans Beumann nach seinem Studium »ins Leben tritt«: Er zieht nach Philippsburg in ein Zentrum ungekränkten westdeutschen Wirtschaftswunders. Er verkehrt mit Anwälten, Chefredakteuren, Rundfunkintendanten, Industriellen – mit Menschen, die sich selber ihr kleines Privatglück inszeniert haben. Den kritischen Zustand dieser bereits wieder restaurativ stabilisierten Gesellschaft zeigen die Ehen der Erfolgreichen. Keine ist in Ordnung, die eine wird durch Ehrgeiz, die andere durch Gewohnheit, eine dritte nur dadurch zusammengehalten, daß die Gesellschaft eine Scheidung als Skandal empfindet. Der zunächst noch kritische Neuling Beumann verwandelt sich sehr schnell zum erfolgreichen Aufsteiger. Sich anpassend gerät er ins Mischmasch trüber Geschichten.
Für meine Mutter
Der Roman enthält nicht ein einziges Porträt irgendeines bestimmten Zeitgenossen, aber es ist die Hoffnung des Verfassers, er sei Zeitgenosse genug, daß seine von der Wirklichkeit ermöglichten Erfindungen den oder jenen wie eigene Erfahrungen anmuten.
M. W.
I
Bekanntschaften
1
In einem überfüllten Aufzug schauen alle Leute aneinander vorbei. Auch Hans Beumann spürte sofort, daß man fremden Menschen nicht ins Gesicht starren kann, wenn man ihnen so dicht gegenübersteht. Er bemerkte, daß jedes Augenpaar sich eine Stelle gesucht hatte, auf der es verweilen konnte: auf der Zahl, die angibt, wieviel Personen der Aufzug tragen kann; auf einem Satz der Betriebsordnung; auf dem Stück Hals, das einem so dicht vor den Augen steht, daß man das Geflecht aus Falten und Poren noch nach Stunden aus dem Gedächtnis nachzeichnen könnte; auf einem Haaransatz mit etwas Kragen daran; oder auf einem Ohr, in dessen unregelmäßigen rosaroten Serpentinen man allmählich der kleinen dunklen Öffnung zutreibt, um darin den Rest der Fahrt zu verbringen. Beumann dachte an die Fische in den Hotelaquarien, deren reglose Augen gegen die Scheiben stehen oder auf der Flosse eines Schicksalsgefährten, der sich offensichtlich nie wieder bewegen wird.
Die mit ihm fuhren, mochten Abonnenten und Annoncenvermittler sein, Journalisten, Photographen und Beschwerdesüchtige, die zum »Abendblatt« in den unteren Stockwerken, zum »Philippsburger Tagblatt« in den Stockwerken vier bis acht oder ganz hinauf wollten, in die oberen sechs Stockwerke, in denen, wie der Fahrstuhlführer bekanntgab, die »Weltschau« untergebracht war: im obersten, im vierzehnten Stockwerk erst, residierte der Chefredakteur der »Weltschau«, Harry Büsgen. Beumann mußte einen Augenblick verschnaufen, als er oben ankam, mußte das Kitzeln in der Magengrube verreiben und das Prickeln auf der Rückenhaut und im Gesicht verrinnen lassen, das ihn befallen hatte angesichts dieses Riesenturmes aus Stahl und Glas, in dessen Rückgrat er mit dem Aufzug in ein paar Sekunden hochgeklettert war, mühelos, geräuschlos, so leicht, wie eine Quecksilbersäule im Thermometer steigt, wenn die Temperatur plötzlich ungeheuer zunimmt. Im Vorzimmer von Herrn Büsgen tändelten zwei Mädchen mit Schreibmaschinen. An ihren waagrecht schwebenden Armen hingen leicht wie Blüten die Hände, und von diesen hingen noch leichter die Finger herab, die auf den Tasten der Maschinen tanzten. Zwei Gesichter drehten sich gleichzeitig ihm zu und lächelten das gleiche Lächeln. Eine fragte ihn und wies ihn dann in die Tür, die von diesem Vorzimmer in ein anderes Vorzimmer führte, in dem nur noch eine Frau saß, eine ältere schon, kleingliedrig, gelbgesichtig, schwarzhaarig und mit großen, etwas schrägliegenden Augen, die sie ihm entgegenhob, während sie fragte, was er wünsche und ob er angemeldet sei. Er gab ihr den Brief, den sein Professor an den Chefredakteur geschrieben hatte. Sie drückte auf einen Knopf, sagte vor sich hin, daß ein Herr Beumann da sei, empfohlen von Professor Beauvais vom Zeitungswissenschaftlichen Institut der Landesuniversität. Ein Lautsprecher antwortete, Herr Beumann möge seine Philippsburger Adresse dalassen, man gebe ihm Bescheid, jetzt im Augenblick könne er leider nicht empfangen werden. Beumann sagte, eine Philippsburger Adresse müsse er sich erst beschaffen. Aber um ja nichts falsch zu machen, ließ er dann doch die Anschrift von Anne
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