Ehrenhüter
im Auto sagte etwas.
Navideh versuchte, sich die grausige Szene bildlich vorzustellen. An der Stelle, als der Wagen auf den schreienden Mann am Boden zufuhr, brach sie ab. «Ihr habt die Typen gefasst, richtig?»
«Ja. Aber die eigentlichen Auftraggeber sind abgetaucht. Die laufen bis heute frei rum.»
«Wie viele Jahre haben sie bekommen?»
Wessel schnaubte verächtlich. «Die sind wegen Totschlags und nicht wegen Mordes verurteilt worden. Der Staatsanwalt hatte noch Revision beantragt und wollte sie lebenslang hinter Gitter bringen. Aber am Ende kamen für den einen nur elf, für die anderen beiden 15 Jahre heraus.Geradezu lächerlich für diese Tat! Niedere Beweggründe und die besondere Grausamkeit der Tat wurden nicht gelten gelassen, da die Typen angeblich selbst unter Druck gesetzt worden waren.»
Jetzt mischte sich Steenhoff wieder in das Gespräch ein. «Laut dem Vorsitzenden Richter sind die Beweggründe für diese Tat für uns Deutsche nicht nachvollziehbar. Es sei fast …, ach ja, jetzt hab ich’s wieder, es sei beinahe anmaßend, ihre Beweggründe zu bewerten. Schließlich hätten die über Jahrzehnte erlittenen Grausamkeiten durch das türkische Militär den Volkscharakter der Kurden geformt.»
«Dass du dir so etwas merken kannst!» Wessel sah ihn verblüfft an.
«Diese Urteilsbegründung werde ich nie vergessen.»
«Verständlich. Das ist doch ein Freifahrtschein für jeden vermeintlich kulturell begründeten Mord!» Navideh war empört.
Sie musste an ihre Eltern denken, die mit ihren beiden kleinen Kindern der religiösen Diktatur des Mullah-Regimes im Iran entkommen waren. Ihr Vater hatte sich all die Jahre von Landsleuten verfolgt und beobachtet gefühlt. Ob das begründet war, hatte sie nie herausgefunden. Wenn ihr Vater aber aufgrund seiner liberalen politischen Überzeugungen von Anhängern des Regimes in Deutschland getötet worden wäre und ein Richter hätte für den Täter auch noch Verständnis gezeigt, dann …
Navideh ließ den Gedanken fallen. Sie wollte nicht länger über ihre Familie nachdenken, die schon seit Jahren zerstört war. Zuerst starb ihr Vater. Und dann entdeckte ihr Bruder, dass sie nach ihrer Scheidung von Marten Petersen eine Beziehung mit einer Frau angefangen hatte. In den Augen ihres Bruders gab es kaum eine größere Schande fürdie Familie. Eine Schande, die er auszulöschen versuchte, indem er Navideh eines Abends halb totschlug und Vanessa zu vergewaltigen versuchte … Plötzlich sah Navideh alles wieder vor sich. Wie sie mit letzter Kraft zur Garderobe gekrochen war, wo ihre Dienstpistole lag. Dann der Schuss. Der erste, mit dem sie einen Menschen traf. Ihren eigenen Bruder.
Sie versuchte, sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren. «Wie nah liegen die Tatorte beieinander?»
Steenhoff räusperte sich. «Ein Kollege der Schutzpolizei, der damals den Tatort mit gesichert hat, sagte uns, der aktuelle Fundort sei in unmittelbarer Nähe der Stelle, wo sie damals die Frau im Schlick fanden.»
«Vielleicht nur ein blöder Zufall?», wandte Navideh ein. Ihre Stimme klang skeptisch.
«Man hat schon Pferde kotzen sehen, aber an solche Zufälle glaube ich nicht», antwortete Wessel.
«Also wieder eine Strafaktion unter Kurden?» Petersen sah fragend von einem zum anderen.
Steenhoff zuckte mit der Schulter. «Noch wissen wir nichts über das Opfer. Aber der Fundort ist bemerkenswert.»
03
Der Wagen passierte eine kleine Fleischerei, eine Apotheke und mehrere reetgedeckte Bauernhäuser. Hier, weit im Norden der Stadt, hatte Bremen nichts von einer pulsierenden Großstadt.
Steenhoff bog von der Rekumer Straße nach links in eine ruhige Wohnstraße ein. Die Vorgärten waren von niedrigen Mäuerchen umgeben, die Rasenflächen akkurat gestutzt,und Blumenbeete säumten die Grundstücksgrenzen. Doch die gepflegte kleinbürgerliche Atmosphäre hatte keine Chance gegen das übermächtige Bauwerk, das sich wie ein drohender Schatten hinter den Häusern erhob.
«Das ist ja unglaublich!»
Fassungslos starrte Navideh Petersen von ihrer Rückbank an Steenhoff und Wessel vorbei auf den Bunker, der am Ende der Straße lag. Schon aus der Entfernung erzeugte der gigantische graue Betonblock eine bedrückende Endzeitstimmung. Ein Streifenwagen stand quer auf der Straße. Einige der Anwohner umringten eine junge Polizistin und zeigten in Richtung Weserdeich. Ihr Kollege kam misstrauisch auf Steenhoffs Wagen zu und machte mit der Hand ein Stoppzeichen.
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