Ehrenhüter
01
Nilgün umklammerte den Riemen ihres Rucksackes. Die Chemiebücher wogen schwer. Aber sie spürte nicht, wie sich Nacken und Schultern durch das Gewicht langsam verhärteten. Ungeduldig starrte sie die Hauptstraße hinauf in die Richtung, aus der die Bahn kommen sollte.
Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Die Bahn hatte schon zwei Minuten Verspätung. Ein schlechtes Omen.
Nilgün atmete heftig aus. Unsinn! Jetzt fing sie schon genauso an wie ihre Tante, die überall böse Vorzeichen ausmachte und danach ihr Leben ausrichtete – und das ihrer Kinder. Selbst ihre
Anne
machte sich über die Tante lustig. Unwillig schob Nilgün den Gedanken an ihre Mutter weg. Jetzt nur nicht an Mama denken! Wenn die wüsste, wofür ihre Tochter sich nach einer qualvollen Woche entschieden hatte! Wenn sie nur eine Ahnung hätte, was sie an diesem Nachmittag vorhatte …
Ihre
Anne
würde weinen, schreien und die eigene Tochter im Haus einsperren. Nilgün verbot sich weiterzudenken. Nichts wäre mehr so wie früher. Nichts.
Die ahnungslose Mutter hatte Nilgün zum Abschied umarmt und ihr einen flüchtigen Kuss auf das halblange schwarze Haar gegeben. «Pass gut auf, meine kluge Tochter, pass gut auf dich auf.» Dann schickte sie Nilgün noch ein Lächeln hinterher und schloss die Tür.
Langsam war Nilgün die Treppe hinuntergegangen. Das Geländer war an vielen Stellen abgestoßen und zerkratzt.Die stumpfgelbe Tapete, die schon seit Jahren keinen frischen Anstrich mehr bekommen hatte, rollte sich an den Ecken auf. Vor den Eingangstüren der Nachbarn lagen Dutzende von Schuhen. Ein Dreirad, an dem eine Pedale fehlte, versperrte ihr den Weg. Genervt schob Nilgün es beiseite. Die Sonne, die durch das matte Fensterglas schien, wärmte das Treppenhaus. Aber Nilgün spürte die Wärme nicht. Die Stimme ihrer Mutter, in der so viel Stolz mitgeschwungen hatte, klang ihr noch in den Ohren.
Auch die Gespräche der Leute an der Straßenbahnhaltestelle drangen nur aus weiter Ferne zu ihr durch. Die Männer und Frauen warteten auf dieselbe Bahn, wohnten im selben Stadtteil und kauften im selben Supermarkt ein. Aber tatsächlich lebten sie auf einem anderen Planeten als Nilgün und ihre Familie. Nur gelegentlich, in der Schule oder auf der Arbeit, überschnitten sich die Umlaufbahnen. Danach kehrte jeder wieder zu sich nach Hause zurück. In sein eigenes Universum. Aber sie, Nilgün, kannte beide Leben. Das der Deutschen und das der Türken.
Wie jeden Montag traf sich die Chemie-AG nachmittags am Gymnasium. Diese Zeit bedeutete drei Stunden Freiheit für Nilgün. Ein Vorgeschmack auf das Leben, wie sie es später einmal führen wollte. Dann, wenn sie studieren und in einer anderen Stadt leben würde. Weit weg von ihrer Familie. Am besten im Osten, wo niemand sie kannte.
Die Bahn hielt direkt mit den Türen vor ihr. Nilgün fand einen Sitzplatz und lehnte den Kopf an das Fenster. Die schäbigen kleinen Reihenhäuser an der Straße glitten an ihr vorbei, aber sie beachtete die Umgebung nicht. Nilgün dachte an ihre Eltern, ihre Brüder, ihre Onkel und Tanten, die vielen Cousins und Cousinen. Heute Abend würde eineandere Nilgün nach Hause zurückkehren. Bei dem Gedanken daran schlug ihr Herz schneller. Es würde schwer werden. Der Vater würde toben. Aber was hatten ihre Eltern für eine Wahl? Letztlich müssten sie ihre Entscheidung akzeptieren.
Nilgün griff in ihre Jackentasche, holte das Handy heraus und schaltete es auf lautlos. Sobald sie in der Schule war, erwartete niemand aus der Familie, dass sie erreichbar war. Für drei Stunden durfte sie ihr Universum verlassen. Drei Stunden am Montag und ein Nachmittag zum gemeinsamen Lernen mit Freundinnen am Wochenende. Die Schule war ihre Insel. Unerreichbar für die anderen.
Schon immer hatte Nilgün Ausflüchte benutzt und Ausreden erfunden. Mal blitzschnelle Notlügen, mal ausgefeilte, verschlungene Geschichten. Sie war in ihnen zu Hause, so als gäbe es zwei Wirklichkeiten. Ihre eigene und die, die ihre Eltern hören wollten. Ein schlechtes Gewissen hatte sie deswegen nicht. Was sollte sie machen? Sie war ein Mädchen. Ein türkisches Mädchen.
Ihre älteren Brüder fragte niemand, wohin sie gingen oder wann sie wieder nach Hause kämen. Murat hatte sogar seit einem Vierteljahr eine deutsche Freundin. Natürlich würde er sie niemals heiraten. Sie war schließlich eine «Ungläubige». Aber die Freundin rief sogar manchmal bei ihnen zu Hause an und verlangte, Murat zu sprechen.
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