Ein Akt der Gewalt
wie reale, in einen Traum eingebaute Geräusche, die man erst nach dem Aufwachen als echt registriert.
»Ich muss zur Arbeit«, sagt er.
Auch Christopher ist jetzt angezogen, trägt seine eigene Hose, ein Hemd, das Thomas ihm geliehen hat, und seine Bowlingschuhe. Er hat eine Tasse Kaffee in der Hand und sitzt auf Thomas’ Sessel.
»Okay«, sagt er. Er stellt die Tasse ab und steht auf.
»Vielleicht«, überlegt Thomas, kratzt sich am Kinn und fährt fort, »sollten wir nicht gemeinsam rausgehen.«
Christopher sagt einen Augenblick nichts, sondern sieht ihn nur an.
Nach einer Weile nickt er. »Okay, wenn du denkst, dass es so am besten ist.«
Thomas weiß eigentlich gar nicht, was er denkt. Er hat sich nie zuvor in einer auch nur annähernd vergleichbaren Situation befunden. Die Beziehungen, die er zu Frauen gehabt hat, sind ihm allesamt gewollt und falsch vorgekommen und haben fast alle wegen seiner Gleichgültigkeit ihr Ende gefunden. Er hat so gut wie nie Interesse gezeigt, auch nur das Geringste für die Beziehung zu tun. Und dann war es auch schon vorüber, und der Abspann lief.
Dies hier ist anders. Es kommt ihm ganz natürlich vor. Und doch weckt es Schuldgefühle. Aber das vielleicht nur aus dem Grund, den Christopher erwähnt hat: Man hat ihm sein Leben lang eingeredet, dass er ein schlechtes Gewissen haben solle, wenn ihn Gefühle wie diese überkommen, und ganz besonders dann, wenn er sie auslebt. Ihm wird übel. Es dreht ihm den Magen um, aber irgendwie belebt es auch ein Glücksgefühl, und er fühlt sich so beschwingt wie schon lange nicht mehr. So lange kann er gar nicht zurückdenken. Das hier lässt ihn empfinden, dass jemand anders, ein anderes menschliches Wesen den Gefühlstaumel versteht, der ihn sein ganzes Leben begleitet hat. Es lässt ihn zum ersten Mal empfinden, dass ein
anderes menschliches Wesen ihn möglicherweise von seiner Einsamkeit erlösen könnte. Er ist vielleicht deswegen so einsam gewesen, weil er sein Leben damit verbracht hat, die einzige Quelle von Verbundenheit, die ihm etwas hätte bedeuten können, von sich zu weisen, die einzige Art von Verbundenheit, die sich richtig anfühlte.
»Und wenn …«, sagt er und bricht ab.
»Was?«
»Und wenn wir zusammen hinausgehen? Was wäre, wenn wir uns absolut nicht mehr verstellen?«
»Das würde unser Leben für immer verändern.«
Thomas nickt.
»Wir könnten niemals mehr zurück«, sagt Christopher.
Thomas nickt abermals. Er weiß, das stimmt, was Christopher sagt, aber irgendwie erscheint es unerheblich.
»Ich bin es leid, zu lügen«, sagt er.
Christopher bleibt sehr lange stumm, überlegt und sagt schließlich: »Okay.«
»Gehen wir«, sagt Thomas.
Peter und Anne stehen nebeneinander im Wohnzimmer. Einen halben Meter auseinander, aber sie stehen doch zusammen. Peter ist niedergeschlagen, obwohl sich Anne einverstanden erklärt hat, gemeinsam zu versuchen, die Situation zu klären. Er weiß, dass sie wahrscheinlich nie wieder dahin kommen werden, wo sie vor der letzten Nacht gewesen sind, aber vielleicht werden sie es im Lauf der Zeit – nach einem oder zwei Jahren – schaffen, sich einander wieder zu nähern.
Er hofft es.
Ron und Bettie stehen an der Eingangstür. Die gebrochene Nase verunstaltet Rons Gesicht, blutige Papierstöpsel
stecken in den Nasenlöchern, und Peter vermutet, dass der Mann ins Krankenhaus müsste. Dann fällt ihm sein gebrochener Finger ein, und ihm kommt der Gedanke, dass er sich vielleicht anschließen sollte.
»Ich seh dich bei der Arbeit«, sagt Ron, ergreift den Türknauf, dreht ihn, zieht die Tür auf und gibt den Blick frei auf den leeren Flur, der zu dem winzigen Fahrstuhl in sechs Meter Entfernung führt, in dem kaum Platz für zwei Personen ist und es immer nach Maischips und Socken riecht. Warum, hat Peter in den drei Jahren, die er hier wohnt, noch nicht herausgefunden. In den dreieinhalb Jahren.
»Ich denke, ich melde mich krank«, sagt Peter.
Ron nickt.
»Dann bis morgen.«
»Ja, bis morgen«, sagt er.
Und dann gehen Ron und Bettie zur Tür hinaus und schließen sie hinter sich. Sie reden miteinander, und Peter hört den gedämpften Klang ihrer Stimmen. Normalerweise hätte er, weil die Wände so dünn sind, verstehen können, was sie sagen, nicht aber heute Morgen, nicht in diesem Moment.
In diesem Moment ist das alles übertönende Geräusch das Heulen der Sirenen.
Erin Riva wacht vom Heulen der Sirenen auf. Obwohl das Licht, das zum Fenster
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