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Ein Akt der Gewalt

Ein Akt der Gewalt

Titel: Ein Akt der Gewalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryan David Jahn
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wieder.
    Patrick wendet sich ihr zu.
    »Ich glaube, mir ist jetzt nicht nach Vorlesen«, sagt er schließlich.
    »Das musst du auch nicht.«
    »Okay.«
    Er nickt. Knickt das Eselsohr wieder ein, legt das Buch zurück auf den Nachttisch und rappelt sich auf. Er blickt hinunter auf seine Füße, sieht einen rosa Zeh, seinen großen Zeh am linken Fuß, der durch ein Loch in der Socke hervorlugt, und dann denkt er absurderweise: This little piggy went wee-wee-wee-wee-wee all the way home …
    »Ich bin wieder da, bevor du damit durch bist«, sagt er und wendet sich zur Tür, dann hält er nochmal inne und sieht Mom an.
    »Wenn etwas passieren würde«, sagt er. »Wenn etwas passieren würde, und ich müsste fort, würdest du zurechtkommen?«
    Mom schüttelt den Kopf. Nein.
    Für einen Moment denkt Patrick, das ist die einzige Reaktion, die er erhalten wird, ein Kopfschütteln, aber dann sagt Mom: »Lass mich nicht allein mit fremden Leuten.«

    Patrick lächelt.
    »War nur so ein Gedanke«, sagt er.
    »Lass mich nicht allein mit fremden Leuten«, wiederholt sie.
    Er nickt. »Tut mir leid, wenn ich dir Angst gemacht habe. Ich werde immer für dich da sein, Momma. Das weißt du doch, oder?«
    Mom lächelt. »Ich weiß.«
    »Okay«, sagt er. »Ich komm zurück, bevor du damit durch bist.«
     
     
    Im Wohnzimmer liest Patrick den Musterungsbefehl zum sechzigsten oder siebzigsten Mal und legt ihn dann wieder auf den Couchtisch.
    Er sieht aus dem Wohnzimmerfenster, vorbei an dem Fernrohr, das er dort aufgestellt hat, hinaus auf den beleuchteten Hof, der bis auf vier Bänke, ein paar Blumenbeete, Spaliere und Betonplatten leer ist. Dann geht er hinüber zum Fernrohr und richtet es auf die Fenster der Wohnungen gegenüber. Nach Patricks Überzeugung eignet sich ein Fernrohr am ehesten dazu, Nachbarn auszuspionieren. Die sind interessanter als alle Planeten und haben dazu weitaus mehr Persönlichkeit.
    Um diese nächtliche Zeit sind nur zwei Fenster erleuchtet.
    Auf eines davon richtet er das Fernrohr und sieht drüben nur ein vereinsamtes leeres Wohnzimmer. Eine braun und rot gestreifte Couch. Das Gemälde eines galoppierenden Pferdes an der rückwärtigen Wand. Wahrscheinlich auf der Flucht vor irgendwas. Nach Patricks Erfahrung ist es so, dass Tiere, die rennen, eher vor etwas flüchten, als dass sie einem Ziel entgegenlaufen.

    Hinter dem anderen Fenster sieht Patrick eine Frau allein auf ihrer Couch sitzen. Sie muss so um die vierzig sein. Sie trägt ein schwarzes Negligé. Sie ist hübsch. Patrick denkt, dass, wenn er vierzig ist und mit einer Frau zusammenlebt, die so aussieht wie sie, er ein glücklicher Mann sein wird; er findet aber, mit einer Frau, die so aussieht wie sie, könnte er auch jetzt schon glücklich sein.
    Aber dann sieht er, dass ihr die Wimperntusche über das Gesicht rinnt, und ihm wird klar, dass sie weint. Sie trocknet sich die Augen mit einem Tuch. Kein neues Rinnsal von Wimperntusche folgt dem ersten.
    Er stellt sich vor, dass er hinübergeht zu ihrer Wohnung und an ihre Tür klopft. Sie würde nicht sofort öffnen. Es ist spät, und draußen laufen gefährliche Leute herum – Vergewaltiger und Klingelgangster.
    »Wer ist denn da?«, würde sie fragen.
    »Ihr Nachbar.«
    »Ja bitte?«
    »Mein Name ist Patrick. Ich wohne gegenüber, auf der anderen Hofseite.«
    »Und weiter?«
    »Na ja, ich hab Sie durchs Fenster gesehen. Nicht dass ich Ihnen nachspionieren wollte. Aber ich hab Sie gesehen. Ich hab gesehen, dass Sie weinen. Ich dachte, vielleicht möchten Sie darüber reden.«
    Und sie würde die Tür öffnen. Die Kette würde natürlich noch vorliegen, aber die Frau würde die Tür weit genug öffnen, um ihn sich anschauen zu können. Und sie würde sehen, dass er harmlos ist. Dass er jedenfalls so aussieht.
    Sie würde nichts sagen. Sie würde einfach nur einen Blick auf ihn werfen wollen. Dann würde die Tür sich schließen und sich kurz darauf wieder öffnen. Diesmal würde da keine Kette mehr sein. Die Frau würde traurig lächeln.

    »Komm doch herein«, würde sie sagen.
    »Danke«, würde er erwidern.
    Nach einem kurzen Augenblick der Befangenheit würde sie anbieten, ihm einen heißen Kakao zu machen. Er würde annehmen, und mit dem Kakao würden sie sich dann zur Couch begeben. Sie würden sich zehn oder zwanzig Minuten lang unterhalten, und sie würde ihm von ihren Problemen erzählen. Aber er würde nichts von seinen Problemen sagen, sondern ihr die Hand auf die Schulter legen und

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