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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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einen Terpentinlappen ausgedrückt, «ist eine reine Privatangelegenheit. Das Drum und Dran jedoch leider nicht.»
    Als die Tage wieder ihren gewohnten Gang gingen und das einst so winzige Haus riesengroß und öde um uns herumschlotterte, kam die Nachbarin herüber. Sie lehnte es ab, ins Wohnzimmer zu kommen und sich niederzusetzen — sie müsse sowieso gleich in den Stall. «Es wird scho ois wieder recht wer’n», sagte sie und reichte mir eine rauhe, harte Hand. «Derfst jetzt aa amal an dich denken, mein i.» Sie hatte vier Söhne im Krieg verloren und kannte die langsame Dünung, mit der das Meer der Zeit steigt und fällt. Zu Michael aber sagte sie, mit dem Kinn auf mich deutend: «Mit der is’ oaner aufg’richt. Sie is a rechts Leut.»
    Es war das schönste Lob, das mir jemals zuteil wurde. Fast zwanzig Jahre lang hatte sie mich beobachtet, ehe sie mich für voll nahm. «Schrecklich», sagte ich zu Michael, als die Nachbarin gegangen war. «Ich komme mir uralt vor.»
    «Wir sind gar nicht alt», erwiderte Michael und zog mich tröstend an seinen Pullover. «Wir sind nur plötzlich die vorige Generation.»
    Lag es daran, oder an etwas anderem, daß von nun an die Winter immer rascher aufeinander folgten? Wuchs Dicki so viel schneller als andere Kinder? Gelang es dem idyllisch-abgelegenen Seeham wirklich in so wenigen Sommern, sich in die Fremdenverkehrshausse Oberbayerns einzuschalten?
    Auf der von silbrigen Weiden begrenzten Wiese am Steg entstand ein bewachter Parkplatz, Seehams Hauptstraße wurde betoniert und verbreitert, drei Tankstellen und ein modernes Kino schossen aus dem Boden. «Du werst es segn», schmunzelte der alte Mojer, der gleich uns den Neuerungen nicht allzu wohlwollend gegenüberstand, «werst es seg’n, a Sauna kriag mer aa no. So vui modern wird ois, so vui modern.»
    In manchen Höfen am See wurde das Vieh abgeschafft, und die Stallungen, in denen früher die Schwalben über den Köpfen der friedlich mahlenden Kühe dahingeschossen waren, verwandelten sich in Garagen und Faltbootunterkünfte. Wellen von Fremden, die alle acht Tage wechselten, wurden von einem findigen Reiseleiter nach Seeham hineingeschleust.
    Doch ach, das Wirtschaftswunder fraß weiter um sich. Die Freunde aus dem Rettichbrot-Biedermeier, die eben noch verklärten Blickes gesagt hatten: «Man muß auch mal hungern können, es gibt höhere Werte», fuhren nun in großen Wagen vor und sagten: «Was? Ihr wohnt immer noch hier auf dem Kuhdorf?» Ja, manche der Frauen schlichen sich in mein Schlafzimmer, wie die Schlange zu Eva, und sagten, während sie sich vor meinem Spiegel die Nase puderten: «Sorgen Sie dafür, meine Beste, daß Ihr Mann Beziehungen zu den Illustrierten aufnimmt. In der Stadt hätte er doch ganz andere Möglichkeiten. Wenn er erst schlechtere, aber gängigere Romane schreibt, fahren Sie auch bald einen Mercedes!» Manchmal jedoch kamen auch die entzückenden Schwägerinnen aus fernen Städten angereist, saßen mit uns auf der Veranda und ließen den Blick genußreich über die Bergkämme schweifen. «Kinder», sagten sie, «ihr wohnt hier goldrichtig. Nur ein bißchen mehr Komfort — ein bißchen mehr Komfort wäre euch zu wünschen.» Den mephistophelischen Einflüsterungen hatten wir widerstanden, den Einflüsterungen der Liebe aber öffneten wir unser Ohr. In unseren Gesprächen tauchte das Wort «Lebensstandard» auf, und unter dem Briefbeschwerer auf Michaels Schreibtisch fanden sich plötzlich Kostenvoranschläge für Zentralheizungen und ein gekacheltes Bad ein. Rein äußerlich gesehen scheiterten unsere Pläne an technischen Unzulänglichkeiten, die tiefere Wahrheit aber lag woanders: Das Haus, seit den ersten Bautagen eine eigenwillige Persönlichkeit, weigerte sich, gewisse Neuerungen anzunehmen, und diejenigen, die es tatsächlich annahm, versah es mit ungeahnten Barockschnörkeln.
    So auch unsere Verbindung zur weiten Welt: das Telefon. Der Rasen schloß sich verhältnismäßig rasch über dem Graben, den die Arbeiter für das Kabel ausgehoben hatten, aber das Antlitz des Gartens behielt doch lange einen Schmiß wie ein Korpsstudent. Der Apparat klingelte vorschriftsmäßig und versetzte uns in die freudigste Aufregung. Ich verwickelte mich in den Läufer und stürzte samt dem abgehobenen Hörer in den Spiegel. Dann aber entspann sich ein durch geheimnisvolle Knarr- und Krächzgeräusche expressionistisch aufgelockertes Gespräch, bei dem keiner der beiden Teilnehmer auch nur ein

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