Ein Baum wächst übers Dach
Wort verstand. Irgendein Erdtier schien am Kabel zu nagen. Als dieser Mißstand beseitigt war, kamen wir bald zu der Erkenntnis, daß das Telefon nicht, wie vorgesehen, unser tägliches Leben erleichterte, wohl aber große Abwechslung hineinbrachte. Fehlverbindungen waren an der Tagesordnung, fremde Stimmen boten uns Kälber an, fragten nach Kunstdünger und waren beleidigt, daß wir nicht das Lagerhaus waren. Als seien es nicht der landwirtschaftlichen Belange genug, strömten auch noch die Nachbarn herbei, um von uns aus ihren Kühen telefonisch ein Rendezvous mit dem Stier zu vermitteln. Die einzigen, die den Apparat nicht benutzten — etwa um sich rechtzeitig anzumelden — , waren unsere Logierbesuche.
Noch immer stiegen wir mit ihnen entweder auf die Hügel jenseits Seehams oder zur Kiesgrube, die Papa inzwischen etwa zehnmal gemalt hatte, und zeigten ihnen die Gegend. Behäbig, mit rauh bewaldeter Brust zogen sich die Berge hinter dem See entlang, der in kleinen Weilchen von Westen nach Osten lief und so leise ans Ufer plätscherte, als dürfe er niemanden stören. Einige der Tannen und Weiden hatten den Stürmen getrotzt und sich am Ufer zu voller Majestät entfaltet. Davor breiteten sich die Wiesen, Kornfelder und Kartoffeläcker, und zwischen ihnen, wie eine dunkelgrüne Insel, fast ein Wäldchen, wuchs unser Grundstück empor, das einst so flach wie ein Zwiebelbeet dagelegen hatte. War das Haus wirklich einmal so blond gewesen wie wir, ein helles Impromptu ohne Erfahrungen? Nun war es von Regen und Schnee geschwärzt, würdig gealtert, zu einem Anwesen geworden, zu einer Heimat, in der man lebte und starb.
Hoch droben über seinem Dach atmete die Weide im goldenen Licht des Spätnachmittags. In ihrem Wipfel saß, ich wußte es, die Amsel, die im Winter immer so frech an der Küchentür bettelte. Sie flötete, das Köpfchen dem See zugekehrt, einige Fragen, wartete lauschend und beantwortete sie dann selbst in frommem, dankbarem Ton.
Die Amsel, noch nicht aus dem Paradiese vertrieben und ohne Gefühl für Zeit, ahnt nicht, wie viele Generationen von Amseln schon im Wipfel unserer Weide gesungen haben. Aber ich weiß es. Es macht mich fast schwindlig, in die Vergangenheit zurückzudenken. Wo ist zum Beispiel der kleine, zärtliche Junge hin, der so nett auf meiner linken Hüfte saß, damit ich mit der Rechten in den Kochtöpfen rühren konnte? Dicki ist einen Kopf größer als Michael und muß sich beim Holzholen im Schuppen ebenso tief bücken wie Bruder Leo. Wenn ich vor dem Wäscheschrank stehe und mir überlege, ob ich die kostbaren, viel zu großen Tischtücher von Großmama nicht doch zerschneiden und aufbrauchen soll, fällt mir meine künftige Schwiegertochter ein. Soll ich sie für sie aufheben? Vielleicht braucht sie sie einmal — in einer Villa am Cap d’Antibes. Wird sie überhaupt Damast noch von Kunstfasern unterscheiden können? Wird sie dessenungeachtet eine reizende Person sein? Neulich, an einem herrlichen, sonnigen Tag, trug ich den Inhalt der Truhen zum Lüften auf die Veranda. Gedankenverloren ließ ich den weißen und den schwarzen Straußenfächer, diese beiden Anführungsstriche meines Lebens, in den Händen spielen.
«Was ist denn das für Zeug, Mami?» fragte Dicki, aus der Schule kommend, und warf seine Mappe in eine Ecke.
Ich legte beide Fächer sorgfältig zusammen, wickelte sie in Seidenpapier und hörte mich zu meinem größten Erstaunen den Satz aussprechen: «Heirate die richtige Frau, und sie kann sie tragen!»
Dicki setzte sich auf die Verandarampe, ließ die riesenlangen Beine in der Sonne baumeln und sagte: «Das mit dem Heiraten überlege ich mir noch. Aber weißt du was, ich glaube, ich ziehe in die Stadt.»
«Wieso denn in die Stadt?» fragte ich erschrocken und ungläubig.
Dicki kratzte seine Mückenstiche und feuchtete sie dann mit etwas Spucke an. «Wenn ich», sagte er, «eine feine Wohnung in der Stadt habe, dann könntet ihr eines Tages zu mir ziehen. Sie darf ruhig teuer sein, die Wohnung, weil wir für den Urlaub kein Geld brauchen. Ein Sommerhaus», setzte er hinzu, «ein Sommerhaus, das haben wir ja schon.»
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