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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Bauvorhabens stand nämlich fest. Es war Seeham in Oberbayern.
    Papa hatte dieses Dörfchen einst auf einem Ausflug mit seiner Malklasse von München aus entdeckt und war seinen Reizen von Stund an verfallen. Es lag am Ufer eines Sees in jenem Gebiet, das in den Wetterberichten als «am Alpenrand auch anders» eine Sondererwähnung erfährt. Dieses Ufer war flach, bestand aus abwechslungsreich geformten und gefärbten Steinen, und durch die Spiegelung des klaren Wassers sah man die bläulich behauchten Berge doppelt. Durchdrang man die zum Trocknen gespannten Fischernetze, die den Strand vom Landesinneren trennten und Seeham silbern verschleierten, so konnte man, einer Legende zufolge, zwanzig Stunden lang wandern, ohne je den Wald zu verlassen. Und was war das für ein Wald, teils lieblich, teils majestätisch, je nach dem Anpflanzungsjahr des bayerischen Forstverwaltungsamtes. Die Aussicht von dem Kirchturmhügel, der Seeham beherrschte, war zum Jauchzen schön, und man fühlte das dringende Bedürfnis, sie mit anderen zu teilen. Führte man jedoch Leute dorthin, um ihnen diese Pracht zu zeigen, so nebelte sich das Gebirge ein, und man war gezwungen, mit einer weiten Armbewegung zu sagen: «Schade, was ihr dort nicht seht, das sind die Ostalpen!» An dieser Eigenheit Seehams hatte sich seit dem Jahre 1910 kaum etwas geändert. Im übrigen war Seeham ein ganz gewöhnliches Dorf mit Spritzenhaus und Viehwaage, einem Bach mit Enten und Forellen, mit drei Dorftrotteln, zwei Kropfträgern und einer Schwäche für den Fremdenverkehr. Schon in den guten alten Zeiten vor meiner Geburt hatten die Eltern alljährlich samt Mädchen und Großmama eine Etage in einer jener Villen gemietet, die in so manchen Dörfern Oberbayerns herumstehen und deren Dächer in eine Unzahl sinnloser Türmchen und Erkerchen ausblühen. Bei dieser Sommergewohnheit war man geblieben. Die Fotoalben im Salon, deren Messingbeschläge die Tischplatten zerkratzten, wenn man sie besah, waren voller Strandbilder: die fröhlichen Eltern, Fische räuchernd, Schwemmholz zusammentragend, Bruder Leo in gestreifter Badehose und schließlich eines Tages sogar ich, heidnisch nackt, die Korkenzieherlocken hochgebunden, damit sie nicht in den See hingen, mißvergnügt gegen die Sonne in die Kamera blinzelnd. Das war nun eine Weile her. Ich hatte nur noch Erinnerungen an die wundervollen Steine, die ich sorgfältig abwusch und wieder ins Wasser legte.
    Bruder Leo zeichnete noch immer an seinem Plan. Papa schob die Patiencekarten zusammen und sah ihm über die Schulter.
    «Das Lange dort, soll das eine Kegelbahn werden?»
    «Das ist die Veranda», sagte Leo.
    «Wir werden ja hauptsächlich draußen essen», sagte Mama entschieden. Essensgeruch war ihr stets zuwider, sie fand ihn spießig.
    «Du kennst Oberbayern noch immer nicht genügend, scheint’s», sagte Papa sanft und schloß leise die Tür hinter sich.
    «Die Hundehütte muß windgeschützt stehen, die könnte zum Beispiel innerhalb der Veranda in einer Ecke untergebracht werden», schlug Mama vor.
    Leo sah auf und grinste. Ich glaubte die Haut seiner Wangen knistern zu hören.
    «Je nachdem, was wir investieren», sagte er, «wird vielleicht das ganze Projekt nur eine Hundehütte. — Wir bauen sowieso aus Holz!»
    «Natürlich», bekräftigte Mama, «in Rußland baut man immer aus Holz, auch für den Winter.» Ich entflocht die Sesselfransen und stand auf. «Holz?» fragte ich. «Da quellen doch immer die Türen und Fensterrahmen und nachher geht nichts mehr auf und zu, oder?»
    Bruder Leo sah mich mit jenem Ausdruck an, den man so oft in den Augen älterer Brüder findet; er besagt, daß man als Kind nicht genügend verhauen worden ist, und schließt die Frage ein, ob vielleicht noch Zeit sei, dies nachzuholen.
    Da meine Beiträge zur Diskussion nicht willkommen zu sein schienen, bat ich Mama um sechzig Pfennig, weil ich in die Vieruhrvorstellung im Capitol gehen wollte.
    «Aber den Film hast du doch schon zweimal gesehen», sagte Mama. «Das ist ja Unsinn. Du kommst überhaupt viel zu wenig an die Luft. Hol Inge ab und geht in den Englischen Garten.»
    Der Englische Garten war eine der üblichen Härten des Lebens, weil es dort außer der frischen Luft für einen Backfisch nicht das geringste Interessante gab. So blieb ich denn noch ein Weilchen und hörte weiter zu.
    «Ein Keller wird zu teuer, ist ja auch unnötig. Soll man ein Bad vorsehen?»
    «Ein Bad? Für die paar Wochen? Kinder — ihr habt ja den

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