Ein dickes Fell
1 Eine Frau namens Gemini
Es ist wichtig, eins von Anfang klarzustellen: Daß nämlich Anna Gemini ihr Kind in keiner Weise benutzte, um ihre Aktivitäten zu tarnen. Vielmehr ergab sich diese Tarnung als unabwendbare Begleiterscheinung. Der Umstand, an einem jeden Tag, praktisch zu jeder Stunde mit diesem Kind zusammen zu sein, bedeutete im Gegenteil eine immense Erschwernis und ein großes Risiko. Die Tarnung stellte somit einen Ausgleich für all die Komplikationen dar, die daraus erwuchsen, gleichzeitig Mutter und Killerin zu sein, gleichzeitig einen schwerbehinderten Jungen zu betreuen und im Auftrag wildfremder Menschen wildfremde Menschen umzubringen.
Gemini. Was für ein merkwürdiger Name, wenn man keine Raumkapsel war. Auch verfügte Anna nicht etwa über einen Zwilling, was dann immerhin einen Bezug zum lateinischen Original ergeben hätte. Vielmehr war sie zusammen mit einem sehr viel älteren Bruder aufgewachsen, und zwar in einem kleinen niederösterreichischen Dorf, das in einem engen Tal wie zwischen zwei prähistorischen Schulterblättern eingeschlossen lag. Diese Enge hatte Anna als Geborgenheit aufgefaßt und den ausbildungsbedingten Wechsel in die Stadt mit einer Art religiöser Demut ertragen. Die religiöse Demut war von Beginn an ihre Domäne gewesen, ihr eigentlicher »Knochen«, wenn man sich den Menschen aus einem einzigen wirklichen Knochen bestehend vorstellt.
Freilich hatte sie in der Stadt eine Existenz entwickelt, die sich auch außerhalb dieser Demut abspielte. Das bereute sie bis zum heutigen Tag, nämlich ein richtiger, ein lebendiger Mensch geworden zu sein, in erster Linie also ein geschlechtlicher Mensch. Und es lag ein verteufelter Widerspruch darin, daß das letztendliche Produkt dieser Geschlechtlichkeit, ihr Sohn Carl, ihr großes Glück bedeutete. Trotz jener Behinderung, die beträchtlich war und Carl mit seinen vierzehn Jahren auf dem geistigen Niveau eines Zweijährigen zurückhielt (eines brillanten Zweijährigen, muß allerdings gesagt werden). Dazu kamen diverse Probleme mit der Motorik. Mitunter war es so, daß Carls Gliedmaßen ein unkontrollierbares Eigenleben zu führen begannen, schlenkerten, rotierten, ausbrachen, den eigenen Rumpf und Schädel attackierten und Carl als eine Puppe erscheinen ließen, in die der Hauch des Lebens stromstoßartig geblasen wurde. Carl war eher großgewachsen und ausgesprochen dünn. Seine Haut besaß die Farbe eines ewigen Winters. Sein Gesicht war voller als der Rest, das blonde Haar wiederum dünn wie gehabt. Die hellbraunen Augen standen im Schatten herrlicher Wimpern, als wollten eben auch diese Wimpern den Zustand des Kleinkindes erhalten. Die meiste Zeit über hatte er seinen Mund leicht geöffnet und seinen Kopf etwas schräg gestellt, woraus sich wiederum ein nach oben gerichteter Blick ergab, der dem geneigten Betrachter heilig erscheinen konnte.
Phasenweise, in Momenten der Erregung, vielleicht auch in Momenten bloßer Langeweile, entließ Carl schrille Laute von einer solchen Intensität, daß Nachbarn schon mal die Polizei riefen. Selbige Polizei, die ja ständig mit dem Vorwurf konfrontiert war, nie dort zu sein, wo man sie brauchte, bewies nach einer ersten Phase der Gewöhnung viel Feingefühl. Diese beamteten Männer und Frauen waren schließlich nicht die Barbaren, als die der Bürger, diese ganze geistlose Autofahrergemeinde, sie gerne ansah. Wenn Polizisten bei Anna anläuteten, so nicht, um sich schikanös zu verhalten, sondern um Hilfe anzubieten. Und nicht selten tat Anna genau das: Sie nahm die Hilfe an. Woran sich die Polizisten freilich auch erst einmal gewöhnen mußten. In der Regel bat Anna die Beamten herein und animierte sie, wenn denn Zeit bestand, sich ein wenig mit Carl zu beschäftigen. So unverschämt konnte Anna Gemini sein.
Ein Kindsvater existierte nicht. Nicht einmal der Name eines solchen. Selbst sein Gesicht lag so weit zurück in der Geschichte, daß Anna es beim besten Willen nicht hätte beschreiben können. Genaugenommen hatte sie nur die Haare dieses Menschen in Erinnerung, Haare, die ihm in der allerdekorativsten Weise ins Gesicht gehangen waren. Ja, das war es gewesen, was sie damals – dreißigjährig, also mitnichten ein Küken – an diesem Mann in erster Linie beeindruckt hatte, seine rankenartig geschwungenen Strähnen dunkelblonden Haares, die sowohl seine Stirne als auch wesentliche Teile seines Augenpaares verdeckt hatten. Nicht in die Augen dieses Mannes hatte sie sich
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