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Ein Drama in Livland

Ein Drama in Livland

Titel: Ein Drama in Livland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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Erstes Capitel.
Über die Grenze.
    Ein Mann… allein in finsterer Nacht. Wie ein Wolf schlich er hin zwischen den von der Kälte des langen Winters aufgetürmten Eismassen. Seine gefütterten Beinkleider, sein »Khalot« – eine Art faltenreichen Kaftans – und seine mit herabgeschlagenen Ohrwärmern versehene Mütze schützten ihn nur unzulänglich gegen den rauhen Wind. Auf Lippen und Händen hatte er schmerzhafte Risse, und die Fingerspitzen waren ihm völlig erstarrt. So schritt er hin durch die tiefe Dunkelheit unter einem Himmel, dessen niedrig dahinschwebende Wolken sich in einen Schneefall aufzulösen drohten, obgleich man jetzt – freilich unter der hohen Breite von achtundfünfzig Graden – schon in den ersten Tagen des April war. Der Wanderer verschmähte es, nur einmal auszuruhen. Nach einer Rast wäre er vielleicht nicht mehr imstande gewesen, seinen Weg fortzusetzen.
    Gegen elf Uhr nachts machte der Mann aber doch Halt. Nicht weil die Füße ihm den Dienst versagt hätten oder daß er außer Atem gewesen wäre, auch nicht weil ihn etwa die Müdigkeit übermannt hätte… nein, seine leibliche und geistige Energie war noch ungebrochen, und mit kräftiger Stimme, in der sich eine warme Vaterlandsliebe ausprägte, rief er jetzt:
    »Endlich! Die Grenze! Die livländische Grenze, die Grenze des Heimatlandes!«
    Wie weit breitete er die Arme aus nach dem Stück Erde, das im Westen vor ihm lag! Wie festen, sichern Schrittes betrat er die weiße Fläche des Bodens, als wollte er diesem seine Fußstapfen am Anfang der letzten Wegstrecke dauernd einprägen!
    Kam er doch von weit, weit, tausende Werst weit her, und das unter so vielen mutig bestandenen Gefahren, die er durch seine Intelligenz, seine Kraft und durch seine nie ermüdende Ausdauer überwunden hatte. Seit zwei Monaten auf der Flucht, wanderte er gegen Westen, durchzog dabei grenzenlose Steppen, zwang sich zu den peinlichsten Umwegen, um den Kosakenposten auszuweichen. überschritt die rauhen, gewundenen Pässe und Schluchten hoher Bergzüge und wagte sich endlich bis in die Zentralprovinzen des russischen Reiches, wo die Polizei eine so scharfe Wachsamkeit übt. Jetzt endlich, jeder Begegnung entronnen, die ihm hätte das Leben kosten können, rief er freudiger:
    »Die livländische Grenze… die Grenze!«
    War denn Livland für ihn das gastfreundliche Land, das Land, wohin der Abwesende nach langen Jahren zurückkehrte, wo dieser nichts mehr zu fürchten hatte, das Vaterland, das ihm Sicherheit bot, wo Freunde seiner harrten wo die Familie ihm die Arme entgegenstreckte, wo Frau und Kinder sein Eintreffen erwarteten, wenn er sich nicht die Freude vorbehalten hatte, sie zu überraschen?
    Nein… auch durch dieses Land wollte er nur als Flüchtling eilen und versuchen, den nächsten Hafenplatz zu erreichen, wo er hoffte, sich, ohne Verdacht zu erregen, einschiffen zu können. In Sicherheit konnte er sich freilich erst wähnen, wenn dann die Küste Livlands unter dem Horizonte verschwunden wäre.
    »Die Grenze!« hatte der Wanderer gerufen, doch was war diese Grenze, die weder ein Flußlauf oder ein Gebirgskamm, noch das Dickicht eines Waldes bezeichnete? Bestand sie nur in einer angenommenen Linie ohne ein greifbares, geographisches Merkmal?
    Es handelte sich hier um die Grenzlinie, die vom eigentlichen Russischen Reiche die drei Gouvernements Esthland, Livland und Kurland, die »Baltischen Provinzen«, scheidet. An der Stelle hier teilt sie, von Norden nach Süden verlaufend, die im Winter erstarrte, im Sommer flüssige Oberfläche des Peipussees.
    Wer war nun der etwa vierunddreißig Jahre alte Flüchtling, dieser Mann von hoher Gestalt, kräftigem Körperbau, breiten Schultern, von mächtiger Brust, starken Gliedern und von so entschlossener Haltung? Aus seiner über den Kopf gezogenen Kapuze quoll ein dichter, blonder Bart hervor, und wenn der Wind den Kapuzenrand etwas emporhob, konnte man zwei lebhafte Augen aufblitzen sehen, deren Blick auch die eisige Luft nicht geschwächt hatte. Ein weitfaltiger Gürtel umschloß den Leib des Mannes und bedeckte eine kleine, lederne Tasche mit seinem gesamten Gelde, das jetzt nur aus einigen Papierrubeln bestand, in einem Betrag, der die Bedürfnisse einer einigermaßen längeren Reise nicht zu decken vermochte. Vervollständigt wurde seine Ausrüstung durch einen sechsschüssigen Revolver, ein Messer in lederner Scheide, ferner durch einen Beutel, der noch einige Nahrungsmittel barg, nebst einer mit

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