Geheimnisse der Lebenskraft Chi
Ich singe den elektrischen Körper.
Walt Whitman
EIN SPION IM DIENST DER WAHRHEIT
Mit einem Impuls fängt es an.
Ich liege an einem warmen Frühlingsabend im Bett. Ohne Grund stehe ich plötzlich auf, gehe nach nebenan, schalte den Fernseher ein. Auf dem Bildschirm erscheint ein asiatischer Arzt im weißen Laborkittel und führt mit den Händen eine Abfolge schneller, kunstvoller Bewegungen aus. Sie sind auf eine etwa einen halben Meter entfernte Frau gerichtet, und seinen Fingern scheint eine Energie zu entströmen. Sie macht aus der Frau so etwas wie eine Aufziehpuppe, die sich schüttelt und zappelt.
Es handelt sich um die Sendung »Ripley’s Believe It or Not« (»Ripley’s unglaubliche Welt«), als Erzähler tritt der Hollywoodveteran Jack Palance auf. In seinem sagenhaften Basso profundo erläutert er, Dr. Chow schleudere da eine Heilenergie namens Chi. Gegen Ende der Darbietung senkt Palance seine Stimme zu einem dramatischen Flüstern. Dr. Chow, verrät er, ist ein Meister des Chi Gong und praktiziert diese uralte Kunst in der Chinatown von Toronto.
Ich sitze mucksmäuschenstill und völlig perplex da. Ob dieser Dr. Chow ein Heiler oder ein Scharlatan ist, weiß ich natürlich
nicht. Aber sollte er echt sein, dann bin ich gerade Zeuge von etwas Unglaublichem, etwas wissenschaftlich nicht Erklärbarem geworden, das man vor ein paar Jahrhunderten als Zauberei bezeichnet hätte. Magie hat mich schon immer interessiert, nicht diese Bühnenzauberkunststücke natürlich, sondern das, was die Wissenschaft des nächsten Jahrhunderts sein wird.
An diesem Abend bewege ich in mir, was ich da gesehen habe. In meinem Grundstudium hatte ich Philosophie und Religionswissenschaft belegt und sehr viel über Anthropologie und Parapsychologie gelesen. Danach zu urteilen gehört Dr. Chow nicht unbedingt mitten ins schamanistische Lager, aber er biwakiert doch irgendwo an dessen Rand. Aber ist er echt, oder führt er Tricks vor?
Schamanen und Zauberer faszinieren mich schon lange. Ich habe auch mit Begeisterung die Bücher Carlos Castanedas gelesen, dieses an der University of California in Los Angeles ausgebildeten Ethnologen, der Bestseller über seine Lehrzeit bei einemYaqui-Indianer und Zauberer namens Don Juan veröffentlichte. Castaneda beschrieb Don Juan als einen Mann der Kraft mit außerordentlichen, geradezu übernatürlichen Fähigkeiten. Kritiker haben behauptet, Castanedas »Feldarbeit« hätte eher in den Archiven der Universitätsbibliothek als in abgelegenen Gegenden Mexikos und Arizonas stattgefunden. Das mag so sein, aber Castanedas Erzählungen von Magie, abgeschrieben oder wirklich erlebt, hatten es mir angetan.
Vom ersten Eindruck her scheint Dr. Chow wie Don Juan erstaunliche Fähigkeiten der Energiemanipulation zu besitzen. Allerdings lebt Dr. Chow nicht in Mexiko, sondern in der Chinatown von Toronto, und das ist für mich nicht ganz unwichtig, denn ich wohne nach dem Abschluss meiner Studien
an der Stanford University gerade wieder einmal im Haus meiner Eltern in einem Vorort von Toronto, keine halbe Stunde von Chinatown entfernt.
Schon am nächsten Tag steht mein Plan. Ich werde Dr. Chow für einen Artikel interviewen, und wer weiß, vielleicht bekomme ich im Laufe dieses Interviews heraus, wie es um seine paranormalen Fähigkeiten tatsächlich bestellt ist. Erst einmal muss ich ihn finden, und so telefoniere ich alle Akupunkturpraxen der Stadt durch, aber niemand hat je von diesem Dr. Chow gehört. Noch eine Runde Telefonate, und ich finde zweitens heraus, dass »Ripley’s Believe It or Not« nicht mehr produziert wird; die Sendung, die ich gesehen hatte, war schon über ein Jahr alt. Das nimmt mir erst einmal den Wind aus den Segeln, aber lockerlassen werde ich nicht. Klar ist aber jetzt schon, dass ich den gehobenen detektivischen Spürsinn werde mobilisieren müssen, um diesen mysteriösen Arzt aufzustöbern.
Lärmender Samstag. Die gesamte asiatische Bevölkerung der Welt ist in Chinatown eingefallen. Hämmernde Rockmusik beschleunigt die Schritte der flutenden Massen. An ein Gebäude aus roten Ziegeln gelehnt, wische ich mir mit dem Handrücken die Stirn. Irgendwo muss es hier doch einen Kräuterladen oder eine Akupunkturpraxis geben, irgendetwas, das mit Traditioneller Chinesischer Medizin zu tun hat. Erst als ich mich wieder von dem Gebäude entferne, werde ich auf einen großen Pfeil aufmerksam, auf dem von Hand geschrieben »Chinesische Kräuter« steht. Die Pfeilspitze weist ein
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