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Ein Drama in Livland

Ein Drama in Livland

Titel: Ein Drama in Livland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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über den Fußboden des Dachraumes emporragte, sagte er:
    »Väterchen, jetzt ist’s Zeit davonzulaufen! Zögere nicht… geh hinunter… die Tür ist offen.«
    Vor Erstaunen fand der Flüchtling keine Antwort. Der wackere Mann wußte also schon, daß er hier war?… Er mußte es beobachtet haben, wie er sich in die Mühle flüchtete?… Das zwar nicht, wohl aber war der Müller, während der Fremde schlief, nach dem Dachraume hinausgekommen, hatte diesen da gesehen, sich aber gehütet, ihn zu wecken. War es nicht ein Russe, wie er selbst? Das erkennen Slawen schon am Gesichtsausdrucke. Er hatte sich gesagt, daß die livländische Polizei diesem Manne nachspürte… Warum?… Das wollte er ihn ebensowenig fragen, wie er ihn dem Brigadier Eck und dessen Polizisten ausgeliefert hätte.
    »Geh hinunter,« wiederholte er mit verhaltener Stimme.
    Der Flüchtling, dem vor Erregung das Herz stürmisch klopfte, begab sich nach dem unteren Raum, von dessen Türen eine offen stand.
    »Hier ist noch einiger Mundvorrat, sagte der Müller, der dabei etwas Brot und Fleisch in den Hängebeutel des Flüchtlings steckte. Ich habe bemerkt, daß der ebenso leer war wie deine Flasche. Fülle sie dir und geh in Gottes Namen…
    – Wenn aber die Polizei erführe…
    – Suche ihr auszuweichen und mach’ dir um mich keine Sorge. Ich frage dich nicht, wer du sein magst, ich weiß nur, daß du ein Slawe bist, und niemals wird ein Slawe den anderen den deutschen Häschern in die Hände spielen.
    – O… Dank… tausend Dank! rief der Flüchtling.
    – Geh’ nun, Väterchen. Gott geleite dich und verzeihe dir, wenn du der Verzeihung bedarfst!«
    Die Nacht war tiefdunkel und der am Erdhügel vorüberführende Weg vollständig verlassen. Der Flüchtling winkte dem Müller noch einmal Abschied zu und verschwand dann in der Finsternis.
    Auf dem eingeschlagenen neuen Wege handelte es sich nun darum, den Flecken Fallen noch in der Nacht zu erreichen, in dessen Umgebung ein Versteck aufzusuchen und da den folgenden Tag auszuruhen. Vierzig Werst… der Flüchtling würde sie zu überwinden wissen, dann befand er sich nur noch sechzig Werst von Pernau. In zwei Tagemärschen hoffte er, wenn kein Zwischenfall ihn aufhielt, noch vor Mitternacht des 11. April in dieser Stadt einzutreffen. Dort gedachte er sich zu verbergen bis zur Beschaffung der nötigen Mittel, die ihm erlaubten, an Bord eines Schiffes zu gehen, und hier mußten viele solche fertig liegen, mit dem ersten Aufbruch des Ostseeeises auszulaufen.
    Rasch schritt der Flüchtling nun dahin, hier über eine offene Ebene, dort am Saume dunkler Weiden-und Birkenwälder. Zuweilen mußte er am Fuße eines Hügels hingehen, mußte engen Schluchten folgen oder kleinere, zwischen den Binsen und Granitblöcken an ihren Ufern nur halb zugefrorene Wasserläufe überschreiten. Der Boden war hier weniger dürr als in der Nähe des Peipussees, wo sich die mit gelblichem Sande vermischte Erde nur mit einer mageren Pflanzenhülle bedeckt. Weit auseinander liegend tauchten schlummernde Dorfschaften auf inmitten flacher, einförmiger Felder, die der Pflug nun bald zur Einsaat von Buchweizen, Roggen, Lein und Hanf durchfurchen sollte.
    Die Temperatur hob sich merkbar. Der halbgeschmolzene Schnee verwandelte sich zu einer schlammigen Masse. Dieses Jahr trat das Tauwetter ausnehmend zeitig ein.
    Gegen fünf Uhr früh stieß der Flüchtling kurz vor dem Flecken Fallen auf ein altes Gemäuer, wo er sich verstecken konnte, ohne von jemand gesehen worden zu sein. Ein Teil des vom Müller erhaltenen Mundvorrates stärkte ihn schon wieder… das übrige würde der Schlaf tun.
    Um sechs Uhr abends brach er, ohne in seiner Ruhe im geringsten gestört worden zu sein, von neuem auf. Wenn er von den sechzig bis Pernau noch übrigen Wersten in der Nacht vom 9. zum 10. April die Hälfte hinter sich brachte, würde das der vorletzte Tagesmarsch sein.
    Das gelang ihm auch. Mit Tagesanbruch mußte der Flüchtling Halt machen, diesmal aber, in Ermangelung eines besseren Verstecks, tief in einem Fichtenwalde, eine halbe Werst von der Landstraße. Jedenfalls war das ratsamer, als in einem Bauerngute oder einer Schenke ein Mittagsmahl und einen Ruheplatz zu suchen. Man trifft nicht immer auf so zuvorkommende Leute, wie zwei Tage vorher den Müller.
    Am Nachmittage sah der hinter dickem Gebüsch verborgene Mann auf der Straße nach Pernau eine Abteilung Polizisten vorüberziehen. Die Leute machten einen Augenblick Halt, als wollten

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