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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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die Carroll Street erschien mir harmlos: Ich hatte erfahren, dass man sie «Syrisches Viertel» nannte.
    «Ganz und gar keine respektable Gegend», wiederholte Mr Partridge abschätzig, ohne seine Ansicht weiter zu erklären, «Sie wollen also Englisch und Französisch studieren?»
    Er blätterte in irgendwelchen Papieren auf seinem Schreibtisch und sagte, erneut mit missbilligendem Blick: «Ich nehme an, es ist Ihnen klar, dass Sie nicht unbedingt eine gute Studentin sein müssen, nur weil Sie in der Schule gut waren. Wissen Sie, hierher kommen Studenten aus dem ganzen Land. Und die Pädagogische Hochschule ist eine Ganztagsbeschäftigung.»
    Ich nickte kleinlaut. «Ja.»
    Er ließ nicht locker.
    «Etliche Studenten, die in der Schule gut waren, sind in den Universitätsfächern sogar durchgefallen.»
    Widerwillig erteilte er mir die Erlaubnis, Englisch I und Französisch I zu studieren; seine Missbilligung zerrte am perfekten Rand meiner neu entdeckten Welt, sodass es schmerzte, und ich verließ sein Büro und ging nach Hause, durch die Union Street und das Museumsgelände bis zur Frederick Street und in die George Street, vorbei am Octagon, in die Princes Street und in die Carroll Street bis zu meiner neuen,anstößigen Adresse. Ich verstand jedoch immer noch nicht, weshalb die Carroll Street nicht «nett» war. Die Leute waren ärmer, es gab nur wenige, die die Pädagogische Hochschule oder die Universität besuchten, und abends um sechs, wenn die Kneipen schlossen, sah man vielleicht manchmal ein paar Betrunkene mehr davor …
    Ich schaffte es nicht, das Anfangserfordernis der Zugehörigkeit zur Pädagogischen Hochschule zu erfüllen: Das Gebäude war neu, und ich hatte Angst vor dieser Neuheit, dieser Nacktheit. Nie zuvor hatte ich mich an einem so sauberen Ort befunden. Anders als in der Oberschule, wo jede Klasse ihr eigenes Zimmer hatte, das man tagsüber als «Zuhause» betrachtete, waren die Räume in der Hochschule einzelnen Fächern vorbehalten – der Pädagogikraum, der Zeichensaal –, und das einzige «Zuhause» der Studenten waren ihre Schließfächer im Umkleideraum, die Besitztümer und nicht Menschen beherbergten. Das «Zuhause» für die Studenten war der
Gemeinschaftsraum
, der mir keine große Sicherheit bot, weil er so riesig und völlig neu war, wenn ich auch entzückt war, endlich sagen zu können:
Gemeinschaftsraum. Ich gehe in den Gemeinschaftsraum. Sie sind im Gemeinschaftsraum
, da sich mir die alten Träume von der Universität, von Oxford, Cambridge, dem «Gelehrten Zigeuner» und
Herzen im Aufruhr
unauslöschlich eingeprägt hatten. In Wirklichkeit ging ich nur selten in den Gemeinschaftsraum.
    Auch von den Toiletten war ich zutiefst beeindruckt. In der Nähe des Waschbeckens war ein Verbrennungsofen, auf dem stand:
Gebrauchte Damenbinden hier einwerfen.
Man musste unter den Blicken aller mit der schmutzigen Binde in der Hand von der Toilette über den hallenden Fliesenboden bis zum Verbrennungsofen am anderen Ende des Raumes gehen.Während meiner zwei Jahre an der Pädagogischen Hochschule trug ich meine schmutzigen Binden nach Hause in die Garden Terrace Nummer 4 und warf sie in den Abfalleimer in der Waschküche, wenn Tante Isy nicht da war, oder zwischen die Grabsteine auf dem Südfriedhof am oberen Ende der Straße, der zu «meinem» Ort geworden war, wo ich mich aufhalten, nachdenken und Gedichte verfassen konnte und der dem «Hügel» in Oamaru entsprach. Wenn Tante Isy am Wochenende den Ofen im Speisezimmer einheizte und diskret fragte, ob ich «etwas zu verbrennen» hätte, sagte ich immer: «Nein danke.»
    «Ja, bitte.» – «Nein danke.»
    Die wenigen Kleider, die ich besaß, lagen zusammen mit gebrauchten Damenbinden, die darauf warteten, auf den Friedhof geworfen zu werden, und mit den Papierschleifen der Caramello-Schokoladentafeln, die ich in meinem Zimmer aß, in der Lade der Kommode. Ängstlich darauf bedacht, als ideale Kostgängerin betrachtet zu werden, hatte ich Tante Isy gleich zu Beginn meines Aufenthalts erklärt, dass ich sehr wenig aß, dass ich Vegetarierin war (ich hatte mich mit Buddhismus beschäftigt) und vollauf damit zufrieden sein würde, mein karges Mahl am Ausgussbecken in der Spülküche zu verzehren, und als Tante Isy mir sagte, ich könne natürlich im Speisezimmer essen, gebrauchte ich die Ausrede, dass ich während des Essens gern lernte. Nun, da ich mich weniger vor der Stadt fürchtete und sogar lernte, mit der Straßenbahn zu fahren, sah

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