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Landgericht

Landgericht

Titel: Landgericht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Holtkoetter
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    Kurz vor Mitternacht. Vereinzelt drückten sich Gestalten im Neonlicht herum, die Schultern hochgezogen, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben. Eine kalte Windböe fegte über das Pflaster, vom gegenüberliegenden Gleis drang eine Lautsprecherstimme herüber.
    Marius lehnte am Eisengeländer des Treppenaufgangs. Das Gleis, der Bahnsteig, die Lichter, die Menschen – alles verschwamm vor seinen Augen.
    Kein Wunder, so betrunken, wie er war. Seit dem späten Nachmittag hatte er sich in der Bahnhofskneipe volllaufen lassen, um seine Gefühle abzutöten. Doch offenbar vergebens, denn sie waren immer noch da: Trauer, Versagen, Schuld. Und der Selbsthass. Der war es, der Marius am meisten zu schaffen machte.
    Weitere Lichter rückten ins Blickfeld, dann eine rote Lok und helle Waggons. Sein Zug fuhr ein, für heute die letzte Regionalbahn quer durchs Münsterland ins Ruhrgebiet. Er stieß sich vom Eisengeländer ab und wankte über den Bahnsteig. Ihm wurde schwindelig, und eine weitere Woge gallenbitterer Gefühle überrollte ihn. Er blieb stehen. Holte Luft. So ging das nicht.
    Er musste alles hinter sich lassen. Einfach vergessen, was gewesen war. Atmen. Weitermachen.
    Marius betrat ein Großraumabteil. Grelles Licht blendete ihn. Eine Bierflasche rollte über den Mittelgang, Hamburger-Schachteln lagen zwischen den Sitzen, aus den Abfallbehältern quollen zerfledderte Zeitungen. Nach dieser Fahrt kam die Putzkolonne.
    Er ließ sich in eine verwaiste Sitzgruppe fallen und streckte die Beine von sich. Dann zog er eine Bierflasche hervor, die er am Bahnhofskiosk gekauft hatte, öffnete sie und trank mit großen Schlucken.
    Ein Jugendlicher im Gothic-Look, mit schwarzer Kutte und gepiercten Lippen, schlurfte an ihm vorbei und ließ sich auf einen Klappsitz sinken. Leise blecherne Beats drangen aus seinen Kopfhörern. Gegenüber machte es sich eine ältere Frau mit einem Kopftuch bequem und zog eine Zeitung hervor, die Hürriyet. Die Türen schlossen sich, und der Zug fuhr aus dem Bahnhof in die schwarze Nacht hinein. Draußen wurde es dunkel, und im Fenster war nur noch sein Spiegelbild zu sehen.
    Marius sah smart aus, wie ein Vorzeigestudent aus dem Universitätsprospekt. Daran konnten selbst die heutigen Augenringe kaum etwas ändern. Auf dem BWL-Campus spürte er die Blicke der Studentinnen. Er kam gut an bei den Frauen, zumindest, bis sie ihn näher kennenlernten. Lange hatte er das ausgenutzt, warum auch nicht. Aber nun war alles anders, natürlich.
    Er fixierte sein Spiegelbild. Vielleicht lag es ja am Alkohol, doch zum ersten Mal erkannte er noch etwas anderes als den smarten Studenten darin. Die vertrauten Züge seines Vaters. Klaus Baar, der Familienpatriarch. Da gab es eine gewisse Ähnlichkeit, keine Frage. In dreißig Jahren würde Marius genauso aussehen wie er. Wieder erfasste ihn der Selbsthass. Er wandte sich vom Fenster ab und nahm einen weiteren tiefen Schluck aus der Flasche.
    Sein Blick traf auf den des Gothic-Typs, der am anderen Ende des Waggons hockte. Der Jugendliche sah hastig weg. Marius kannte ihn vom Sehen, er fuhr häufiger mit dem letzten Regionalzug. Überhaupt waren ihm alle vertraut, die noch im Abteil saßen. Die ältere Frau mit Kopftuch, die in ihrer Zeitung das Kreuzworträtsel löste. Der Handwerker im Blaumann, der Feierabend machte. Oder der Alkoholiker, der mit aufgequollenem Gesicht und blauroter Schnapsnase vor sich hin glotzte. Eine seltsame Gemeinschaft bildeten sie. Obwohl sie regelmäßig zusammen im Zug saßen, vermieden sie es, miteinander in Kontakt zu treten. Lieber starrten sie in die Dunkelheit hinaus und ließen sich vom Rattern der Waggons einlullen.
    Sah man ihm wohl an, wie schlecht es ihm ging? Ob die anderen Fahrgäste ahnten, dass sein Leben gerade zusammengebrochen war? Interessierte das überhaupt einen?
    Er hatte versagt, und zwar so allumfassend, dass er sich nicht mehr davor verstecken konnte. Er war ein Schwächling. Eine Niete.
    Eine Erkennungsmelodie ertönte. Der nächste Bahnhof wurde angesagt. Ein Mann mit Aknenarben im Gesicht erhob sich, der aussah wie ein brutaler US-Marine aus einem Kriegsfilm. Auch ihn kannte Marius bereits. Irgendwas stimmte mit dem Typen nicht. Marius fühlte sich ständig von ihm beobachtet. Auch jetzt glotzte der wieder so komisch herüber. Für gewöhnlich sah Marius einfach weg, doch jetzt spürte er Wut in sich aufsteigen. Hatte dieser Typ irgendein Problem mit ihm? Dann sollte er das einfach sagen, heute würde

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