Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
ich mich außerstande, das Bild des Mädchens mit dem winzigen Appetit zu korrigieren, und so war ich oft hungrig. Gierig griff ich nach köstlichen Resten von gekochtem Corned Beef auf Tante Isys Teller inmitten des Stapels von schmutzigem Geschirr, welche diese übrig gelassen hatte,weil sie zu «faserig» waren. Und ich kaufte die Caramello-Schokolade zu einem Shilling pro Tafel und aß sie auf meinem Zimmer.
Ich nahm wenig Anteil am geselligen Leben der Hochschule. Ich sehnte mich danach, einmal einen zerknitterten Gabardine-Regenmantel (die Uniform der Studenten) kaufen zu können. Völlig ahnungslos, was Liebe und Sexualität betraf, beobachtete ich mit neiderfülltem Staunen das Leben jener Frauen, die, indem sie ihren «Mann» fanden, nicht nur ihre eigenen Erwartungen erfüllten, sondern auch die ihrer Familie und ihrer Freunde und so ihr Wesen mit einer Blüte der Selbstsicherheit ergänzten. Ich hatte meine einzige Liebesaffäre mit der Lyrik und Prosa in den Vorlesungen der Hochschule und in den neu begonnenen an der Universität, wo ich meine Zeit verträumte. An der Universität musste ich mich nicht wie eine Lehrerin benehmen. Ich konnte in der Vorlesung sitzen und zuhören, wurde nicht einmal zum Sprechen aufgefordert und gab mich, unbehindert von Kritik und Kommentaren, dem Träumen über das Thema der Vorlesung und manchmal auch über den Vortragenden hin. Meine Aufmerksamkeit war groß. Ich staunte über all das neue Wissen, über den Enthusiasmus und die Begabung der Lehrenden an der Hochschule wie auch an der Universität, über die neue, jeweils ganz eigene Ausdrucksweise der Hochschul- und der Universitätsstudenten und über die in den Englischvorlesungen von Professor Ramsay und Gregor Cameron neu präsentierte Sprache Shakespeares und Chaucers, wobei Professor Ramsay jedes Wort von Shakespeare analysierte und uns so sein eigenes Staunen über Shakespeares Sprache und ihre Bedeutung vermittelte. Wie das Meer aus Oamaru kamen auch Shakespeare und seine Sprache mit mir nach Dunedin, undich hütete beide wie einen Schatz, da sie sowohl zu meinem neuen Leben gehörten als auch zum Leben «des Mädchens, das fort war». Wir beschäftigten uns eingehend mit
Maß für Maß
, das ich nie gelesen hatte und das nun zu einem meiner Lieblingsstücke von Shakespeare wurde, denn jede Zeile löste eine Unmenge von Ideen in mir aus, die sich in Traum-Avenuen, Gedichtzeilen, den Arbeiten für die Semesterabschlussprüfungen, doch zu meinem Leidwesen nicht in den literarischen Essays drängten, die ich so gern geschrieben hätte. Damals waren von den Universitätsprofessoren noch keine schriftlichen oder mündlichen Kommentare seitens der Studenten der Stufe I oder II erwünscht. In den Englisch-Klassenarbeiten an der Pädagogischen Hochschule konnte ich ab und zu meinen sehnlichen Wunsch nach dem Prosaschreiben befriedigen.
Viel von meiner Zeit und meinen Erfahrungen als Studentin ist mir heute verschlossen, von jener Substanz, die mit dem Leben jedes Augenblicks beziehungsweise mit dem Erfassen eines jeden Moments unseres Lebens freigesetzt wird. Ich kann mich an meine Gefühle erinnern und sie nachvollziehen, doch habe ich heute ein Bedürfnis nach einer rationalen Begründung für das, was so unvermeidlich schien. Ich hatte keinen Begriff vom Ausmaß meiner Einsamkeit. Ich klammerte mich an die Werke der Literatur, wie ein Kind sich an seine Mutter klammert. Ich entsinne mich noch, wie
Maß für Maß
, dieses zutiefst durchdachte Stück randvoll von Verletzungen der Unschuld, von sexuellem Ringen und Stellungnahmen zur Sexualität, von langen Diskussionen über Leben, Tod und Unsterblichkeit, mein Herz gewann und in meiner Erinnerung bestehen blieb, mich im täglichen Leben
begleitete
:
Was ist in dem, das die Bezeichnung Leben trägt?
Dennoch birgt dieses Leben viele tausend Tode;
Doch fürchten wir den Tod.
Es ist ein schonungsloses Stück in aufrichtiger Sprache über Trost und Abhilfe, über die Analyse von Rache und Abgeltung und über Leben und Tod in der Waagschale. Während ich dies jetzt schreibe, bin ich ungehalten über mein Ich als Studentin, das so ungeformt war, so unerwachsen, so grausam unschuldig. Obgleich ich damals nicht die Möglichkeit hatte zu erfahren, ob andere Studenten auch im Stande einer solchen Unschuld lebten, habe ich inzwischen herausgefunden, dass viele ein ebenso bizarres Leben in Befangenheit und Schüchternheit und Unwissenheit führten wie ich. Ich habe von
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