Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
erfüllte sie mit großer Zufriedenheit. »Ich glaub, ich geh mal in die Badewanne«, verkündete sie, als wäre das etwas Neues, dabei macht sie das immer, wenn sie irgendwo eine entdeckt: Sie legt sich rein, und das für Stunden. Ich bin nicht so. Badewannen machen mich nervös. Sobald ich drinliege, frage ich mich, was passieren würde, wenn die Wanne plötzlich unter mir einen Riss bekäme. In meiner Phantasie befinden sich unter Badewannen Heizspiralen wie unter einem Keramikkochfeld, und sicher wird eines Tages auch jemand so etwas erfinden, um das Badewasser länger warm zu halten. Badewannen sind kein guter Ort für mich. Weitere Orte, denen ich misstraue, sind Solarien, Kernspintomographen, Tunnel, bei denen man beim Reinfahren nicht den Ausgang sieht, und Raumkapseln.
Während das Badewasser einlief, trafen wir noch ein paar gewichtige Entscheidungen wie etwa die, wer auf welcher Seite des großen Doppelbetts schlief und ob ich uneingeschränkten Zugriff auf die Unterhaltungselektronik des Hotelzimmers haben würde. Wir einigten uns in beiden Fällen, und ich zappte eine Weile durch das magere Fernsehprogrammangebot und holte dann Gabors Bären aus dem Rucksack. Er sah aus wie neu. Auf einem kleinen Zettel, der in der Naht seines rechten Ohrs steckte, stand »Made in China«. Ich setzte ihn auf mein Kopfkissen und überlegte, wo in diesem Raum Platz für meinen Altar sein könnte, weil ich das Gefühl hatte, dass ich ihn hier noch brauchen würde. Dann beschloss ich, nach draußen zu gehen. Ich klopfte an die Tür zum Bad, und als keine Antwort kam, klopfte ich noch mal, und schließlich ging ich rein und sah, dass meine Mutter wieder auf Tauchstation war. Sie sagt, sie liebt es, wenn ihre Ohren unter Wasser sind, weil es dort Geräusche und Klänge gibt, die man in der Luft nicht hören kann, und außerdem sei es so friedlich dort. Ich kann Wasserbehälter, hinter denen sich theoretisch Heizspiralen befinden könnten, beim besten Willen nicht friedlich finden. Wir haben schon oft darüber geredet, meine Mutter und ich, und natürlich hat sie sich gefragt, ob während ihrer Schwangerschaft mit mir irgendetwas schiefgelaufen sein könnte, aber keiner von uns hat sich je an einen Vorfall erinnern können. Erst nachdem ich wie alle anderen Kinder mein Seepferdchen gemacht und ihr zuliebe sogar drei gelbe Plastikringe vom Grund des Beckens geholt hatte, hörte sie auf, sich Sorgen um mich zu machen, und ich hörte auf zu schreien, wenn sie wie eine Wasserleiche in der Badewanne trieb.
»Ich geh raus«, sagte ich, als sie wieder aufgetaucht war.
»Wie?«, fragte sie, aber dann schaltete sie sofort wieder in den Muttermodus. »Wir essen um sieben. Hast du dein Handy dabei?«
»Hab ich«, sagte ich und warf ihr einen Kuss zu und ging.
Ich bin noch nie in Weimar gewesen. Ich stecke voller Vorurteile über Ostdeutschland und inneren Bildern von Orten, an denen überall Glatzköpfe mit Springerstiefeln rumhängen und Leute wie mich anpöbeln. Trotzdem sind Kernspintomographen viel schlimmer. Meine Großmutter war mal in einem; sie hat mir davon erzählt, und sie hat gesagt, sie hätte gebetet da drinnen vor lauter Einsamkeit. Ich könnte heute noch heulen, wenn ich daran denke. Ich vermisse sie so. Meine Großmutter war mit Joschi verheiratet gewesen, aber als ich auf die Welt kam, lebte sie schon lange mit Karl zusammen, also wurde Karl mein Großvater. Sie sind beide im vergangenen Jahr gestorben, ganz kurz nacheinander, was bestimmt gut für sie war, aber nicht für uns. Um Platz eins der schlechtesten Nachrichten des vergangenen Jahres hatten sich außerdem beworben: Meine Katze wurde überfahren. Ich verpasste den Abgabetermin beim Kurzgeschichtenwettbewerb an meiner Schule. Meine Freundin Helene hatte Sex mit einem Jungen, in den ich wahnsinnig verliebt war, was aber keiner von den beiden wusste und was die Sache irgendwie noch schlimmer machte. Mein Vater zog von zuhause aus.
In diesem Jahr lief es deutlich besser für mich, das war nicht zu übersehen.
Zu meiner großen Erleichterung waren statt Nazis lauter normale Leute auf der Straße unterwegs, und wer nicht rumlief, saß in Decken gehüllt vor einem der Cafés, rauchte oder verrenkte sich den Hals nach den letzten Oktobersonnenstrahlen. Ich steckte mir die Kopfhörer von meinem iPod in die Ohren und sah mir zum neuen Album von Coldplay die Live-Übertragung »Lily in Weimar« an. Mein Leben als Film – das mache ich oft, wenn ich draußen bin und
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