Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)
er wieder in die Küche ging und alles aufwischte. Dann kehrte er ins Kinderzimmer zurück und entschuldigte sich, dass es so lange gedauert hatte mit dem Saubermachen, aber schließlich hätte sie eine komplette Geschichte auf den Küchenboden gekotzt, eine sehr spannende und noch dazu eine mit mehreren Folgen. Er habe sie leider wegputzen müssen, aber selbstverständlich hätte er sich die Geschichte gemerkt, ob meine Mutter die erste Folge hören wolle?
Der Inhalt der gekotzten Geschichte ist nicht überliefert. Meine Mutter sagt, sie sei vor Lachen fast aus dem Bett gefallen, aber an mehr könne sie sich nicht erinnern.
Ein paar Tage später wiederholten die beiden auf ihr Drängen die Szene mit einer frischen Packung Buchstabennudeln auf dem Küchentisch. Meine Mutter meint, sie hätte natürlich selbst mit ihren sieben Jahren wenig Hoffnung gehabt, dass eine Geschichte daraus werden würde, aber eine klitzekleine Möglichkeit bestand ja immerhin, oder? Sie stand neben Joschi vor dem Tisch und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das Buchstabennudelmeer und konnte nicht einmal ein einfaches Wort wie Auto oder Blume oder Hut darin entdecken. Sie sagte es Joschi. Er sah sie einen Moment lang erstaunt an, und dann wandte er sich dem Nudelberg zu und begann vorzulesen. Es war die Geschichte von einem Radiergummi, der sich in einen Fahrradreifen verliebt hatte, an diese Geschichte erinnert sich meine Mutter sehr genau, weil sie die ganze Zeit verzweifelt versuchte, die Wörter ausfindig zu machen, die Joschi trotz seines gebrochenen Deutschs mühelos und flüssig aneinanderreihte. Ein eifersüchtiger Dynamo kam auch in der Geschichte vor. »Und dann hat Dynamo Reifen geschält wie Apfel«, las Joschi vor, und an dieser Stelle gab meine Mutter endgültig auf, weil sie nicht wusste, wie man Dynamo schreibt. Dass Joschi es wahrscheinlich ebenso wenig gewusst hatte wie sie, ist ihr erst viel später aufgefallen.
In diesem Moment wurde mir klar, dass ich den Einstieg für mein Referat gefunden hatte. Ich sah den Haufen mit den Buchstabennudeln vor mir, ich sah die Vitrine aus Buchenwald mit den vielen Knöpfen vor mir, und ich wusste auf einmal, dass dort, wo Unordnung hinterlassen wird, die Geschichten warten. Man musste die Dinge nur in die richtige Reihenfolge bringen.
Ich wollte meine Mutter fragen, warum sie ausgerechnet diese Geschichte an unserem Wochenende nicht erzählt hatte, wo sie doch so toll gepasst hätte, aber meine Mutter hatte den Kopf zur Hälfte in ihrem Mantel vergraben und schien zu schlafen. Ich sah ihr eine Weile aufmerksam zu und kam zu dem Ergebnis, dass sie tatsächlich schlief. Das warf mich ziemlich um. Ich war kurz davor, meinem Vater eine Nachricht zu schicken (»Mami schläft in einem öffentlichen Verkehrsmittel«), weil ich einen Moment lang glaubte, wenn sie so was bringt, dann kann sie ihn vielleicht auch wieder lieben. Aber am Ende ließ ich es bleiben und überlegte mir stattdessen, ob ich Badewannen und Raumkapseln in meinem Leben vielleicht doch noch mal eine Chance geben sollte. Außerdem hatte ich plötzlich unheimlich Lust, Hebräisch zu lernen.
Danke
Ich danke Daniel Gaede und den Mitarbeitern der Gedenkstätte Buchenwald für ihre liebevolle Unterstützung bei meinen Recherchen – und für einen ganz besonders erhellenden Hinweis.
Das Buch
Charmante Lügen und die Tücken der Suche nach der Wahrheit – ein skurril-komischer Familienroman
Joschi Molnár bleibt ein Rätsel. Der famose Fabulierer hat seinen Kindern etliche Versionen seines Lebens hinterlassen. Als sich die Halbgeschwister Hannah, Marika und Gabor in Weimar treffen, um Joschis hundertsten Geburtstag zu feiern, prallen Welten aufeinander. In rasanten Dialogen und skurrilen Szenen nähern sie sich der Wahrheit – und finden zueinander.
Joschi Molnár hatte fünf Kinder mit fünf verschiedenen Frauen, verlor zwei Kinder und seine zweite Frau in Auschwitz, war Häftling in Buchenwald – und hinterließ ein Vermächtnis aus phantastischen Geschichten, tragischen Verstrickungen und faustdicken Lügen. Dreißig Jahre nach seinem Tod bringt sein Geburtstag die Geschwister zum ersten Mal zusammen. Ganz unterschiedliche Vaterbilder kommen zum Vorschein. Der Verräter. Der Abwesende. Der Geschichtenerzähler – und: der Tausendsassa mit Witz und Ideen.
Während Hannah sich leidenschaftlich mit ihren jüdischen Wurzeln identifiziert und von einem Happy End in Israel träumt, hadert Gabor mit seiner
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