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Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition)

Titel: Ein fabelhafter Lügner: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susann Pásztor
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Prolog
    AN EINEM SONNIGEN HERBSTMORGEN im September 1959 schickte József Molnár sich an, seinem Leben ein Ende zu setzen. Schon am Abend zuvor hatte er in einer Bahnhofsgaststätte nach passenden Abschiedsworten für seine Liebsten gesucht und die drei Briefe eingeworfen. Er nahm sich ein Zimmer in einem Stundenhotel, das sich in einem ehemaligen Luftschutzkeller im Zentrum der Stadt befand und ihm von früheren Besuchen vertraut war. Nachdem er mehrere Schlaftabletten mit etwas Wasser hinuntergewürgt hatte, legte er sich auf den ehemals rosafarbenen Bettüberwurf, betrachtete die Stockflecken und den abblätternden Putz an der Decke, lauschte dem tropfenden Wasserhahn und dem Verkehr, der über ihn hinwegrollte, und wartete auf den Tod.
    Doch das, was er fürs Sterben hielt, war nur ein weiterer Anfang vom Ende, und anstelle des Todes erschien der Wirt und später dann ein ruppiger Notarzt, denn József hatte nur für zwei Stunden bezahlen können, und das reichte nicht zum Sterben. Und so kam es, dass sich am Tag darauf drei Menschen um ein anderes Bett versammelten – ein Krankenhausbett diesmal mit sauberen weißen Laken – und ihre Augen besorgt auf Józsefs blasses, erschöpftes Gesicht richteten. (Er hatte allen Grund, blass und erschöpft auszusehen. Magenauspumpen ist keine Kleinigkeit und ein gescheiterter Selbstmord ebenso wenig, zumal dessen Anlass auch noch nicht aus der Welt geschafft war.)
    Drei Frauen waren es, die sich über ihn beugten und dabei sorgfältig darauf bedacht waren, Abstand voneinander zu halten. Zwei von ihnen waren einander noch nie begegnet und würden es auch nie wieder tun. Sie waren beide schwanger. Eine stand kurz vor der Niederkunft, während die andere erst seit ein paar Tagen wusste, dass sie guter Hoffnung war, und guter Hoffnung war sie, weil es nichts auf der Welt gab, das sie mehr wollte als diesen müden, schmächtigen Mann, der lieber tot gewesen wäre. Die dritte hatte schon ein Kind von ihm. Es war zwölf Jahre alt und nicht glücklich.
    Sie weinten alle drei, denn für jede von ihnen gab es Grund genug. Schließlich hätte die eine beinahe ihren Ehemann, die andere den, den sie endlich heiraten wollte, und die dritte einen Ex-Gatten verloren, von dem sie sich einst schweren Herzens und trotz tiefster Verbundenheit getrennt hatte. Sie schluchzten aus Schmerz und aus Hilflosigkeit, aber auch aus Verlegenheit, denn am Bett eines überlebenden Selbstmörders konnte man nicht einfach übereinander herfallen, und einem überlebenden Selbstmörder eine Szene zu machen ging auch nicht, jedenfalls nicht gleich. Das wusste József auch, aber es machte die Sache nicht besser.
    Nachdem sie reihum ihrem Kummer Ausdruck verliehen hatten, wurde es still im Raum, weil keiner von ihnen so recht wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Aber wir befinden uns schließlich in den ausgehenden Fünfzigerjahren, und da respektierte man noch so etwas wie eine gesellschaftliche Rangfolge: Ehefrau kam vor Ex-Ehefrau kam vor Geliebter. Und so zogen sich nach einer Weile zwei der Frauen diskret, wenn auch widerstrebend zurück, die eine für immer, die andere für mindestens eine halbe Stunde, und József Molnár blieb mit seiner Frau allein.

1
    IN MEINER FAMILIE LERNT MAN SICH OFT sehr spät kennen und manchmal überhaupt nicht. Dafür wird sehr viel über andere Familienmitglieder nachgedacht, vor allem dann, wenn man nichts über sie weiß oder lieber nichts wissen will. Und es werden Geschichten erzählt, bei denen man nie sicher sein kann, ob sie wahr sind oder nicht und wer sie erfunden haben könnte. Denn das, was andere Familien ihren Stammbaum nennen, ist bei uns eine Art Sudoku, an dem seit Jahren gearbeitet und vor allem herumradiert wird, weil jedes Mal ein anderes Ergebnis herauskommt. Die Geschichten wollen einfach nicht zusammenpassen. Manche schließen sich gegenseitig aus, andere überbieten sich mit blumigen Details, und zum Nachfragen ist es sowieso zu spät, weil es niemanden mehr gibt, der eine Antwort wüsste. Denn das ist das Einzige, was die Geschichten gemeinsam haben: Ihre Helden sind alle tot.
    An diesem Wochenende wäre mein Großvater József, genannt Joschi, hundert Jahre alt geworden. Mein Großvater war ein Mann, dem seine Frauen und Kinder abhandenkamen wie anderen Leuten Socken oder Kugelschreiber. Wenn es nicht das Schicksal war, das sie ihm wegnahm, sorgte er selbst dafür, dass er sie verlor. Leider bin ich ihm niemals begegnet. Als er starb, waren meine

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